Von Michael Bienert - Am Maxim-Gorki-Theater sind Romanadaptionen mächtig in Mode: von Fontanes „Effi Briest“ und Tolstois „Anna Karenina“ bis zu Christa Wolfs „Kindheitmuster“ und Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ reicht das Repertoire. Am Wochenende war nun Sven Regeners 2008 erschienenes Buch „Der kleine Bruder“ dran, eine dialogreiche Aussteigergeschichte aus dem Westberlin der 1980er Jahre. Nachdem er sich durch einen fingierten Selbstmordversuch dem Wehrdienst in Bremen entziehen konnte, rumpelt Frank Lehmann mit dem Kumpel Wolli aus der Punkszene über die Transitstrecke in die gelobte Stadt. Sein älterer Bruder Manfred hat sich in der Kreuzberger Subkultur schon einen Namen als Schrottkünstler gemacht, aber als Frank dort eintrifft, findet er nur das leere Zimmer in einer Fabriketage vor. Zwei Tage und Nächte zieht er durch die Szene, trifft allerlei schräge Vögel und findet letztlich nicht nur den Bruder, sondern auch seine Bestimmung als Tresenkraft im Kreuzberger Nachtleben.
Den Roman bearbeitet und inszeniert hat Milan Peschel, als Schauspieler zuletzt gefeiert für seine Darstellung des krebskranken Familienvaters in Andreas Dresens Film „Halt auf freier Strecke“. Einschlägige Erfahrungen mit Romanadaptionen bringt Peschel von der Volksbühne mit, wo er vor Jahren bei den vielstündigen Dostojewski-Abenden von Frank Castorf zur Stammbesetzung zählte. Daran erinnert manches: die hyperaktive Spielweise im kleineren Gorki-Theater und der hohe Verbrauch an Bierdosen, die szenige Kostümierung und das improvisiert wirkende Bühnenbild (Magdalena Musial), die lässigen Auftritte einer Musikerin mit E-Gitarre und Punkfrisur (Maike Rosa Vogel) zwischen den Bildern. Doch hält sich Peschel sehr viel behutsamer an die Romanvorlage als das Castorf jemals getan hätte. Er behandelt das Buch nicht als Steinbruch, sondern bemüht sich liebevoll um Werktreue. Das Resultat ist kein furioses Spektakel bis zur Erschöpfung, sondern ein Berliner Genrebild. Keine Weiterentwicklung der ruppigen Volksbühnenästhetik, sondern ein Zurück ins gute, alte Grips-Theater der Vorwendezeit, ohne die Schmissigkeit allerdings der legendären „Linie 1“, die zur selben Zeit im Mauerstadtmilieu spielt wie „Der kleine Bruder“.
Ein Grund für die Schwäche ist die undramatische Anlage der Hauptfigur Frank Lehmann (Paul Schröder): Die Suche nach dem verlorenen Bruder ist für ihn kein existentielles Problem, er gerät nie ernsthaft in Not und adaptiert sich schnell an die neue Umgebung. Der Kreuzberger Kiezroman hätte zumindest den Stoff für eine ätzend böse Satire über die lokale Alternativ- und Hausbesetzerszene geboten, in der letztlich doch jeder sein eigenes Süppchen kocht. Franks windiger Vermieter Erwin (Peter Kurth) scheffelt kräftig Kohle als Betreiber von Lokalen in Kreuzberg, der gewiefte Performer P. Immel (Holger Stockhaus) fördert zielstrebig seine Karriere, indem er eine Besetzung in dem Haus vortäuscht, das ihm gehört. Der Punk Wolli (Michael Klammer) wird von seinen Hausbesetzerkumpels geschröpft und zum Betteln auf die Straße geschickt. Als verlässlich erweist sich allein der partygeile Freund Karl (Ronald Kukulies) in seiner seine großsprecherischen Unbedarftheit. Allesamt Lebenskünstler, die sich im Kreuzberger Dorf gegenseitig vorspielen, sie wären etwas ganz Besonderes. Dahinter lauern Paranoia, Depression und nackter Egoismus. Die punkig aufgebrezelten Mädels (Sabine Waibel und Regine Zimmermann) sehen das illusionslos und arrangieren sich damit.
Eigentlich lobenswert, wie der im Osten aufgewachsene Regisseur Milan Peschel sich liebevoll um eine gerechte historische Rekonstruktion des Mythos Kreuzberg bemüht und darin etwas Zeitloses sucht. Warum bleibt dennoch ein flaues Gefühl? Schreiben wir es für diesmal dem Umstand zu, dass der Kritiker zum Zeitpunkt der Handlung selber in Kreuzberg wohnte und diese Typen schon damals ziemlich hohl fand. Viel interessanter sind sie auch auf der Bühne nicht.
Aufführungstermine unter www.gorki.de
ERSTDRUCK: Stuttgarter Zeitung vom 3. April 2012
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