Translate

Sonntag, 1. Juli 2018

Unter Pflegefällen. Jens Sparschuhs Roman aus dem Altersheim

Von Michael Bienert. Nie verläuft ein langes Leben in gerader Linie. Biografien beschreiben Zickzack- und Wellenlinien, wenigstens einen Bogen von Nullpunkt zu Nullpunkt. Kleinkinder und die ganz Alten sind ähnlich schwach und hilfebedürftig, sie müssen gestützt und umsorgt werden, oft auch gefüttert und gewindelt.
Täglich hat der Ex-Journalist Titus Brose die prekäre Situation der Pflegefälle vor Augen. Er arbeitet im „Alten Fährhaus“, einem Seniorenheim bei Berlin, dessen Insassen auf die Überfahrt ins Jenseits warten. Brose verdient er seinen Lebensunterhalt damit, im Auftrag einer Agentur die Lebenserinnerungen der Alten in Bücher zu verwandeln. Die paar gebundenen Exemplare sind nicht für den Buchmarkt bestimmt, sondern werden von den Angehörigen gut bezahlt.
Zu den kuriosen Bewohnern des Alten Fährhauses gehört Dr. Einhorn, der sich seit Jahrzehnten mit dem Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso befasst. Eine Merkwürdigkeit in Chamissos Lebenslauf lässt den Forscher nicht los: Immer wieder hat der Dichter Ereignisse aus seinem Leben in seinen Schriften literarisch antizipiert. Ein Schlüsselrolle darin spielte sein Freund Julius Eduard Hitzig, der auch die erste Biografie Chamissos verfasste. Einhorn ist überzeugt, dass Chamissos Leben nur zu verstehen sei, indem man es chronologisch rückwärts erzählt. Er schickt Brose ins Leipziger Stadtarchiv, um dort ein biografisches Detail aus Chamissos Leben zu ermitteln, das Einhorns Theorie der „Zeitschleifen“ bestätigen soll.
Was ihm im Alten Fährhaus begegnet, bringt den Biografieprofi Brose zusehends aus dem Konzept – und öffnet ihm einen Zugang zum Erzählen seiner eigenen Geschichte. Wie Hitzig in das Leben Chamissos, so greift Brose als Regisseur ins Leben einer Insassin des Pflegeheims ein, nachdem diese ihm einen unerfüllten Lebenswunsch offenbart hat. Der Erzähler Jens Sparschuh entlässt seine Leser somit nicht ungetröstet aus dem bedrückenden Altersheimszenario seines jüngsten Romans. Seinem Helden Titus Brose verhelfen die Pflegefälle zu einem Wechsel der Perspektive auf das eigene Leben, und darin liegt auch die stille Kraft dieses unaufgeregt erzählten Romans.

Jens Sparschuh: Das Leben kostet viel Zeit. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 384 Seiten, 20 Euro.

Der Affe fällt nicht weit vom Stamm - eine furiose Ausstellung im Georg-Kolbe-Museum

Von Elke Linda Buchholz. Die Chefin des Georg-Kolbe-Museums hat sich zu einer Radikalkur entschlossen. Ganz wohl ist Julia Wallner nicht dabei. Sie hat schlecht geschlafen vor der Ausstellung „Der Affe fällt nicht weit vom Stamm“ von Volker März. Denn im ehemaligen Kaminzimmer des historischen Bildhauerateliers steht jetzt Hitler neben Franco. Das akademische Franco-Porträt schuf Kolbe als Auftragswerk. Sein Bremer Künstlerfreund Gerhard Marcks, ein verfemter Künstler, ließ sein Hitler-Konterfei irritierenderweise noch 1949 in Bronze gießen. Die beiden Diktatorenköpfe hat der Gastkünstler aus dem Depot gefischt und knallt sie dem Besucher gleich zu Beginn des Rundgangs direkt vor die Nase. Ruhms. Weiterlesen

Max Lieberman trifft Paul Klee: Eine Ausstellung am Wannsee

Die Liebermannvilla am Wannsee
Von Elke Linda Buchholz. Liebermann empfängt Klee. Zwei Maler geraten ins Gespräch. Ihre Auffassungen unterscheiden sich gründlich, aber es gibt auch überraschende Berührungspunkte. Mal schweigt der eine, mal lässt der andere dem Kollegen den Vortritt. Zum Vergleich stellen sie ihre Bilder nebeneinander. In Wirklichkeit hat diese Begegnung zwischen dem preußischen Impressionisten Liebermann und dem Schweizer Bauhausmeister Klee nie stattgefunden. Sie lebten in getrennten Kunstuniversen. Aber ihre Werke nehmen in Liebermanns sommerlicher Villa jetzt den Gesprächsfaden auf. Weiterlesen

Ein Besuch bei Josephine Gabler, der neuen Direktorin des Berliner Kollwitz-Museums

Noch ist das Kollwitzmuseum in der
Fasanenstraße zu finden.
Von Elke Linda Buchholz. Vor dem Haus riecht es nach Orangen. Ein Saftstand des Auktionshauses Villa Grisebach nebenan empfängt mit frisch gepressten Vitaminen. Auch Josephine Gabler, die neue Direktorin des Kollwitz-Museums, verbreitet positive Aufbruchstimmung in ihrem sonnigen Arbeitszimmer. Sie will das Haus endlich wieder in ruhigeres Fahrwasser lenken. Genug sei über die Querelen im vergangenen Jahr geschrieben worden, als die Stiftung des langjährigen Auktionshausleiters Bernd Schultz dem Kollwitz-Museum kündigte und die damalige Direktorin Iris Berndt entnervt die Segel strich. Weiterlesen