Von Michael Bienert. Nie verläuft ein langes Leben in gerader Linie. Biografien beschreiben Zickzack- und Wellenlinien, wenigstens einen Bogen von Nullpunkt zu Nullpunkt. Kleinkinder und die ganz Alten sind ähnlich schwach und hilfebedürftig, sie müssen gestützt und umsorgt werden, oft auch gefüttert und gewindelt.
Täglich hat der Ex-Journalist Titus Brose die prekäre Situation der Pflegefälle vor Augen. Er arbeitet im „Alten Fährhaus“, einem Seniorenheim bei Berlin, dessen Insassen auf die Überfahrt ins Jenseits warten. Brose verdient er seinen Lebensunterhalt damit, im Auftrag einer Agentur die Lebenserinnerungen der Alten in Bücher zu verwandeln. Die paar gebundenen Exemplare sind nicht für den Buchmarkt bestimmt, sondern werden von den Angehörigen gut bezahlt.
Zu den kuriosen Bewohnern des Alten Fährhauses gehört Dr. Einhorn, der sich seit Jahrzehnten mit dem Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso befasst. Eine Merkwürdigkeit in Chamissos Lebenslauf lässt den Forscher nicht los: Immer wieder hat der Dichter Ereignisse aus seinem Leben in seinen Schriften literarisch antizipiert. Ein Schlüsselrolle darin spielte sein Freund Julius Eduard Hitzig, der auch die erste Biografie Chamissos verfasste. Einhorn ist überzeugt, dass Chamissos Leben nur zu verstehen sei, indem man es chronologisch rückwärts erzählt. Er schickt Brose ins Leipziger Stadtarchiv, um dort ein biografisches Detail aus Chamissos Leben zu ermitteln, das Einhorns Theorie der „Zeitschleifen“ bestätigen soll.
Was ihm im Alten Fährhaus begegnet, bringt den Biografieprofi Brose zusehends aus dem Konzept – und öffnet ihm einen Zugang zum Erzählen seiner eigenen Geschichte. Wie Hitzig in das Leben Chamissos, so greift Brose als Regisseur ins Leben einer Insassin des Pflegeheims ein, nachdem diese ihm einen unerfüllten Lebenswunsch offenbart hat. Der Erzähler Jens Sparschuh entlässt seine Leser somit nicht ungetröstet aus dem bedrückenden Altersheimszenario seines jüngsten Romans. Seinem Helden Titus Brose verhelfen die Pflegefälle zu einem Wechsel der Perspektive auf das eigene Leben, und darin liegt auch die stille Kraft dieses unaufgeregt erzählten Romans.
Jens Sparschuh: Das Leben kostet viel Zeit. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 384 Seiten, 20 Euro.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen