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Dienstag, 11. September 2012

Im Theater (38): Ibsens "Volksfeind" an der Schaubühne

Wo es um Wirtschaftsinteressen geht, hört die Demokratie auf. „Als Angestellter hast Du kein Recht auf eine eigene Überzeugung“, faucht der Chef des städtischen Kurbades den Badearzt an. Wer den Dienstweg verlässt und Hierarchien unterläuft, fliegt raus! Doch die Warnung kommt zu spät: Doktor Stockmann hat schon ein Gutachten an die Presse gegeben, wonach die Kurgäste in vergiftetem Wasser baden. Wenn das rauskommt, muss der einzige lukrative Betrieb der Stadt für zwei Jahre schließen und die Bürger müssen neue Wasserleitungen bezahlen. Ein Alptraum für den Chef des Kurbades, der als Stadtrat wiedergewählt werden will.

Der Schauspieler Ingo Hülsmann personifiziert diese Verfilzung von  Politik und Wirtschaft. Ein Machertyp, leicht ergraut, im smarten blauen Anzug, schaltet er mit situativer Intelligenz zwischen drei Persönlichkeitsprofilen hin und her. Er ist knallharter Manager, biegsamer Politiker und überdies Bruderrivale des eigenbrötlerischen Badearztes, den er zur Raison bringen muss. Angeblich im Dienste der Allgemeinheit, in Wahrheit aber um vom eigenen Versagen abzulenken, schließlich war es seine Idee, die  Wasserleitungen kostensparend durch einen industrieversuchten Sumpf zu legen.

Ibsens „Volksfeind“ ist eine Familientragödie und ein Wirtschaftskrimi, in Thomas Ostermeiers Inszenierung an der Schaubühne wird das Drama zum Lehrstück über das Versagen der repräsentativen Demokratie. Es geht um den Druck, den  Wirtschaftsinteressen auf gewählte Politiker, auf Medienvertreter und Wähler ausüben. Die Inszenierung spielt in einer heutigen Kleinstadt, die mitten in der aktuellen Finanzkrise vom Versagen der örtlichen Verantwortungsträger eingeholt wird. Allen sitzt die Angst vor einem finanziellen Fiasko im Nacken. Nicht anders als den Bankern und Politikern, die an der Eurokrise herumlaborieren.

In der Krise nimmt das politische System auf der Bühne faschistoide Züge an. Die örtliche Zeitung druckt lieber eine bezahltes Gegengutachten der Bäderbetreibe als die Wahrheit, bei einer Bürgerversammlung kann sich Stockmann nicht gegen die cleveren Wirtschaftspolitiker behaupten. Er und seine Frau verlieren ihre Jobs, werden aus der Stadt geekelt.

Hier die Krawattenträger des korrupten Establishments, dort die Turnschuhfraktion mit Sympathien für die Forderungen der Piratenpartei nach Transparenz und Systemveränderung – zu Beginn  sieht die Inszenierung fatal nach Schwarzweißmalerei aus, doch das bleibt nicht so. Die im Schlabberlook ihre Laptops traktierenden Zeitungsredakteure Hovstadt und Billing (Christoph Gawenda und Moritz Gottwald) spielen zwar mit Freund Stockmann in einer Band (live auf der Bühne). Doch sie sind biegsam wie ihr Herausgeber Aslaksen (David Ruland), alle drei wollen immer auf der Seite der vermuteten Mehrheitsmeinung sein, damit ihr Blatt nicht eingeht.

Die befreundeten Journalisten beschimpfen Stockmann als Antidemokraten und schleudern Farbbeutel, als dieser bei der Volksversammlungsszene ins Theaterpublikum hinein die „scheißliberale Mehrheit“ als eigentliches Problem attackiert. Geschickt öffnet sich die Guckkastenbühne (von Jan Pappelbaum mit Zeichnungen von Katharina Ziemke) in dieser Szene zum Publikum. Es darf über die aus dem gesellschaftskritischen Manifest „Der kommende Aufstand“ entlehnten Thesen abstimmen und mitdiskutieren. Wie erwartet nutzte das Berliner Premierenpublikum diese Möglichkeit kaum, bei Aufführungen mit gemischterem Publikum oder Schülern könnte das spannend werden.

Der Theaterabend kommt nach zwei Stunden zu einem konsequenten Abschluss, weil sich niemand die Stockmann-Figur des Schauspielers Stefan Stern in politisch verantwortlicher Position vorstellen kann. Er mag in der Sache recht haben, ohne politischen Realitätssinn bleibt er in seiner hässlichen Lederjacke ein verschwitzter Held von trauriger Gestalt. Im Schlussbild studiert er mit seiner Frau (Eva Meckbach) Aktien des Kurbades, die sein unsäglich schmieriger Schwiegervater (Thomas Bading) billig zusammengekauft hat. Wird er auch diesem letzten, raffiniertesten  Bestechungsversuch widerstehen oder vor der Übermacht kapitulieren?

Die Politik in Berlin tut alles Erdenkliche, diesen „Volksfeind“, der im Juli bereits in Avignon gezeigt wurde, zum Stück der Saison zu machen. Wenige Stunden vor der Berliner Premiere wurde die parteilose Wirtschaftssenatorin zum Rücktritt gezwungen. Ihr Fehler: Sie hatte sich ins Postengeschacher mächtiger Männerbünde eingemischt. Schon war sie die Unterstützung der CDU-Fraktion los. Tags zuvor hatte der Aufsichtsrat des neuen Berliner Flughafens zugegeben, dass dessen Eröffnung sich um eineinhalb Jahre verschiebt und die Steuerbürger zusätzlich 1,2 Milliarden kostet. Es muss etliche Stockmanns gegeben haben, die das Desaster kommen sahen – und schwiegen. Warum, zeigt die Schaubühne: wahrhaft eine moralische Anstalt! 

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 11. September 2012



Zum Spielplan der Schaubühne

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