Brennende Häuser und Synagogen, nackt gefesselte Menschen, Schwangere mit aufgeschlitzten Bäuchen: In berührende Aquarelle hat der Maler Issaachar Ber Ryback den Schrecken der Progrome in seiner russischen Heimatstadt im Frühjahr 1919 gebannt, mit einer an Kinderzeichnungen erinnernden Direktheit, dabei aber eine ganz eigene Bildsprache zwischen modernem Kubismus und russischer Ikonenmalerei gefunden. Der Bildzyklus ist der Auftakt zu einer furios inszenierten Ausstellung über die Schicksale osteuropäisch-jüdischer Einwanderer in den Zwanziger Jahren.
Auf der Flucht vor Pogromen strandeten Zehntausende in Berlin, manchen gelang die schnelle Weiterreise nach Amerika oder Palästina, andere wurden sesshaft, bis die nationalsozialistische Verfolgung einen neuerlichen Exodus erzwang. Eine 20 Meter langen Videoinstallation aus historischen Filmstreifen und Fotografien versetzt die Besucher ins damalige Berlin. Auf der Wand gegenüber können sie Fotografien aus dem Scheunenviertel, in dem besonders viele arme Immigranten lebten, kritisch auf die innewohnenden Stereotypen betrachten; auf iPads sind die brilliant faksimilierten Dokumente der Schikanierung durch die deutschen Behörden nachzulesen. Den Gegenpol zur Armutswelt des Scheunenviertels bilden zwei Räume, in denen die Vielfalt von Büchern aus russischen und jüdischen Verlagen ausgebreitet sind und kostbare Erbstücke aus dem Besitz der Familie des Ölmagnaten Chaim Kahane, der in Charlottenburg wohnte. Durch einen Raum mit Tondokumenten geht es in einen Galerieraum mit Werken dreier sehr unterschiedlicher Maler: Kubistische Werke von Issaacher Ber Ryback treffen auf konstruktivistische Skulpturen von Naum Gabo und spätimpressionistische Porträts des Malers Leonid Pasternak, Vater des berühmteren Schriftsteller Boris Pasternak. So wirft jeder der ganz individuell gestalteten und bestückten Ausstellungsräume ein kräftiges Schlaglicht auf je einen Aspekt des ostjüdisch-russischen Lebens im unruhigen Berlin zwischen den Weltkriegen. Zugrunde liegen der Präsentation und dem handlichen Katalogbuch das mehrjährige DFG-Forschungsprojekt Charlottengrad und Scheunenviertel, das interdisziplinär und international eine Fülle bisher kaum ausgewerteter Quellen gesichert hat. Die Ausstellung beschränkt sich klug auf eine überschaubare, aber sehr ansprechend inszenierte Zahl von Exponaten. In einem Epilog verweist sie auf die Orte russisch-jüdischen Lebens in der Stadt, dazu gibt es eine Karte auf der Ausstellungshomepage und Stadtführungen von StattReisen.
23. März 2012 bis 15. Juli 2012,
täglich 10 bis 20 Uhr, montags 10 bis 22 Uhr
Jüdisches Museum Berlin, Lindenstr. 9-14, 10969 Berlin, Altbau 1. OG
Katalog: Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
160 Seiten, ca. 150 durchgehend farbige Abbildungen
Format: 20 x 25 cm
24,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1087-2
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