Kobold der Moderne
von Michael Bienert
Der Lektor muss tief geschlafen haben. Schon in der
Einleitung von Wilfried Schoellers Biografie liest man über Döblins
Schreibfleiß: „Dieses Werk ist kaum zu überblicken allein wegen des Umfangs,
der um einiges mehr, als Thomas Mann geschrieben hat.“ Wie bitte? Nicht mal
brüllende Rhetorik vermochte das Hanser-Lektorat aufzuwecken: „Vor der
stampfenden Wucht dieser Dichtung verschwindet alle Literatur. Wir paar
Menschen, die wir in der Berliner Sezession vor dem Rednertisch saßen, fühlten
es alle: da steht nicht einer über den Dingen, die er am Schreibtisch zerdacht
hat; da steht ein Mann vor seinem Werk, selbst halb zerdrückt davon und wie
erschrocken.“ Drei Seiten später liest man das Zitat über eine Döblin-Lesung
von 1922 wortwörtlich nochmal, ohne jeden Mehrwert. Sicher, so was passiert,
wenn ein Autor sein 2000-Seiten-Manuskript auf 900 Druckseiten herunterkürzen
muss. Aber dass der führende deutsche Literaturverlag es für überflüssig fand,
alle Zitate nachzuprüfen: Das kann doch nicht wahr sein!
Diese Schluderei macht wütend, weil es hier um ein
überfälliges Standardwerk zur deutschen Literaturgeschichte geht. In ihr steht
der Schriftsteller Alfred Döblin gleichrangig neben den Zeitgenossen Kafka,
Brecht, Musil oder dem verachteten Rivalen Thomas Mann. An eine wirklich
umfassende Biografie hatte sich vorher niemand herangetraut, aus vielen
Gründen. Abschreckend wirkt schon der Umfang von Döblins Gesamtwerk mit seinen
dicken Romanen, die mal im Dreißigjährigen Krieg, in China, am Amazonas oder in
Berlin spielen. Schwer verdaulich sind seine weltanschaulichen Bücher und seine
Hinwendung zum Katholizismus im Alter. Um seine medizinischen Schriften richtig
einzuschätzen, müsste sich ein Biograf auch in Psychiatrie und innerer Medizin
auskennen.
Neben seiner Tagesarbeit als Kassenarzt brilllierte Döblin
Anfang der Zwanziger Jahre als scharfzüngiger Feuilletonist. Vor dem Ersten
Weltkrieg schon gehörte er zu den Mitbegründern einer urbanen,
sprachavantgardistischen Gegenwartsliteratur, in der Weimarer Republik setzte
er sich wie wenige für eine den demokratischen Staat stützende Kulturpolitik
ein. Auch deswegen wurde Döblin 1933 ins Exil getrieben, wo er unermüdlich
weiterschrieb. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg ins zerstörte Deutschland
zurückkehrte, schlug ihm so viel Ablehnung und Desinteresse entgegen, dass er
ein zweites Mal nach Paris emigrierte.
Vom Geburtsort Stettin in die Wahlheimatstadt Berlin, nach
Paris, Amerika und wieder zurück in den deutschen Südwesten führte diese
Lebensreise, auch das eine Herausforderung für einen Biografen. Heikel war
zudem der Umgang mit der Familiengeschichte, ohne die Döblins Biografie nicht
nachvollzogen werden kann: Lange gab in der Emigrantenfamilie gut gehütete
Tabus, besonders um Döblins 45-jährige schwierige Ehe und sein Verhältnis zu
der Geliebten Yolla Niclas, der er sich bis zu seinem Tod verbunden fühlte.
Welch ein gewaltiger Stoff für einen großen Ehe- und
Familienroman, aber auch für einen Epochenroman über die literarische Moderne
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts! Der Literaturkritiker Winfried F.
Schoeller jedoch ist kein Epiker wie Döblin, sondern eher ein Liebhaber der
kleinen feuilletonistischen Form. Er löst die großen Spannungsbögen in eine
Perlenkette kurzer Kapitel auf. Das macht den schwer konsumierbaren Stoff sehr
bekömmlich, lässt aber auch nie das Gefühl aufkommen, man müsse dieses Buch
ganz durchlesen.
Schoeller nähert sich Döblin mit einer angenehmen Mischung
aus Empathie und kritischem Blick: In den großen Romanen sucht er nach
biografischen Fermenten, die schnoddrigen autobiografischen Selbstauskünfte
Döblins befragt er danach, was dahinter an Schmerz und Angst verschwiegen sein
könnte. Schoeller hat sich tief in die Quellen, insbesondere den Marbacher
Nachlass, eingegraben, daher gelingt ihm die Korrektur mancher Legenden: So
kann er nachweisen, dass sich der Berliner Senat 1953 ernsthaft Mühe gegeben
hat, den Hinfälligen zurück ins sein geliebtes Berlin zu holen.
Döblin wollte die Literatur aus einer bildungsbürgerlichen
Sphäre in den modernen Alltag zurückholen, mit Umtriebigkeit, Beweglichkeit,
entgrenzter Fantasie und Lust an der Provokation. Schreibend hat er eine
Freiheit vorgelebt, die immer noch ansteckend wirkt, aber auf die Dauer auch
ermüden kann. Dass Schoellers Biografie eine gewisse Erschöpfung verrät, passt
ins Gesamtbild: Döblin ist kein Autor, mit dem einer fertig werden kann.
Wilfried F. Schoeller
Alfred Döblin
Eine
Biographie
München 2011: Hanser Verlag
912 Seiten,
Preis: 34.90 €
Erstdruck: literaturblatt für baden-württemberg, Heft 1/2012
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