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Montag, 13. Februar 2012

Panorama: Gerhard Richter in der Nationalgalerie


Von Elke Linda Buchholz - Eine opake weiße Farbschicht legt sich wie eine Schneedecke über die Bildoberfläche. Nur an wenigen Stellen schimmert die grau in grau gemalte, Szene darunter durch. Was Gerhard Richter hier nahezu zum Verschwinden gebracht hat, enthüllt erst ein Blick auf die Bilder seines RAF-Zyklus: Es ist das Interieur der Zelle Gudrun Ensslins in Stuttgart-Stammheim, mit dem schattenhaften Körper der Erhängten. Unheimlich, vage und trotzdem eindringlich vergegenwärtigen die verwischten, nach Pressefotos gemalten Bilder die Akteure und Orte von 1977. Das Gemälde "Decke" aus Privatbesitz und der berühmte 15teilige RAF-Zyklus aus dem Museum of Modern Art in New York treffen jetzt im Schinkelsaal der Alten Nationalgalerie aufeinander. Hier, umgeben von klassischen Historienbildern des 19. Jahrhunderts, erweisen sie sich als Versuch in einer Gattung, die es eigentlich schon längst nicht mehr gibt: der Historienmalerei. Gleich nebenan hängt Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer". Um Richters fotorealistische Variante des romantischen Seestücks zu sehen, muss man in den Mies van der Rohe-Bau ans Kulturforum fahren.
Dort versammelt die Retrospektive "Panorama" zum 80. Geburtstag Gerhard Richters 130 Werke als Kondensat aus 50 Schaffensjahren und einem Gesamtoeuvre von 3400 Werken. Darunter ausgewählte Ikonen wie der eine Treppe herabsteigende Akt und die brennende Kerze, das von hinten gesehene Porträt einer Frau im rotgeblümten Bademantel und die stille, an Vermeer erinnernde "Lesende", aber auch die vom Publikum weniger geliebten, abstrakten Werke wie die Grauen Bilder, die aleatorischen Farbtafelarbeiten und freien Improvisationen.   
In London, der ersten Ausstellungsstation, war dieselbe Auswahl in Themenräumen geordnet. In Berlin lässt sich Richters Werkentwicklung weitgehend chronologisch abschreiten. In der großen Glashalle des Mies van der Rohe-Baus zieht sich rundum die architekturbezogene Arbeit "4900 Farben", ein Fries aus 196 emaillierten Farbquadrattafeln. Dann eröffnet Richters jüngstes Werk, das Großformat "STRIP" von 2011, den Rundgang. Das haarfeine Streifenmuster in sommerlichem Orange, Blau, Grün, Türkis und Gelb ist ein Digitaldruck und scheint die flirrende Farbigkeit des Impressionismus mit der nüchternen Perfektion des Computerzeitalters zu versöhnen. Dass Richter seit mehr als zwei Jahrzehnten fast ausschließlich abstrakt malt, macht der erste Raum deutlich. Hier darf man förmlich in der herben Schönheit der meterhohen Farbimprovisationen schwelgen. Mal leuchten sie kirschrot mit darunter durchblitzenden smaragdgrünen Farblagen, mal weiß in weiß, mal schrundig wie abblätternde Hauswände in der sechsteilige Folge "Cage" von 2006. Es ist eine Hommage an John Cage, den großen Komponisten des Zufalls, der Alltagsgeräusche und des Fast-Nichts. Auch Richters abstrakte Farbüberlagerungen geben zufälligen Prozessen Raum. Er selbst bezeichnet sie als "Landschaften, die es nicht gibt".
Der chronologische Werkdurchlauf beginnt mit der Nummer 1 in Richters autorisiertem Oeuvreverzeichnis. Das rüde mit Farbschlieren überschmierte Abbild eines Tisches stammt aus dem Jahr 1962, als Richter noch Student der Düsseldorfer Akademie war. Was der 1932 in Dresden geborene Künstler davor in der DDR produzierte, blendet er aus. Der "Tisch" wirkt ratlos, wütend, hässlich. Gegenüber hängt ein Spiegel und reflektiert Bild und Betrachter. Das klug kuratierte Zusammentreffen zwischen dem Frühwerk und der 1981 entstandenen Spiegelinstallation lenkt den Blick auf eine Konstante in Richters Werk. Von Anfang an hinterfragt er die Möglichkeiten des Bildes und der Darstellbarkeit. Das muss man aushalten.
In den 1960er Jahren malt der Künstler, was er aus Zeitungen klaubt: Wäschetrocknerwerbung, Unfallfotos, Bombengeschwader. Es ist die Medienwelt eines Andy Warhol, aber in schwarzweiß und im malerisch verunklärenden Duktus, der zu Richters Markenzeichen wird. Auch die privaten Fotoalben geben Bildvorlagen her: der Künstler als Baby mit Tante Marianne, ein Onkel mit Hund. Unterschwellig transportieren die schwarzweißen Gemälde das Grauen der NS-Zeit mit. Richters schizophrene Tante Marianne wurde ermordet. Als er das Bild malte, wusste er nichts davon. Was ist sonst noch bildwürdig? Eine Klopapierrolle. Bildfüllend und lapidar vom Foto abgemalt, widerspricht sie mit Trotz und Witz Marcel Duchamps Ready Made eines Pissoirs und dem angeblichen Ende der Malkunst.
Aber Richter will nicht als Altmeister der verwischten Fotoabmalerei in die Kunstgeschichte eingehen. Schon in den 60ern und 70ern testet er weitere Alternativen aus. Ab jetzt ist alles gleichzeitig präsent: Strukturen und Malfakturen im Blow-Up zum Bildthema aufgeblasen, farbige Schlieren und verwischte Landschaften, Mondoberflächen, Meereswellen, Wolkenhimmel.
Die Ausstellung orchestriert die widersprechenden Ansätze als harte Dissonanzen. Zugleich gelingen verblüffende Dialoge. So ist mitten in der deprimierenden Phase der monochromen grauen Bilder, die sich einem Nullpunkt der Malerei nähern, plötzlich Tizian da. Unendlich zart und schwebend versucht Richters Malerei, die "Verkündigung" des italienischen Koloristen zu evozieren, wie ein fernes Echo. Kein einziger Pinselstrich lässt auf dem nach einer Kunstpostkarte gemalten Bild ausmachen. Malerei ist ein Wunder: Richters Werk beharrt darauf.
Der Künstler selbst tritt bescheiden und leise auf. Spricht vom Scheitern. Lacht. Und überlässt es lieber anderen, sein Werk zu interpretieren. Welches sein Lieblingsbild in der Ausstellung ist? Richter zögert. Dann wagt er sich doch aus der Deckung und verweist auf die unscheinbare Ansicht eines verschneiten Gehöfts. Warum gehört gerade dieses kleine Bildchen zu den unverkäuflichen? Richter schweigt und lächelt, wie auf fast alle Fragen, die man ihm stellt.

Öffnungszeiten. Bis 13. Mai 2012, Di-So 11-18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Mo geschlossen. Mehr Infos unter http://www.smb.museum
Katalog. Auf über 300 Seiten bildet das Katalogbuch alle Exponate ab und legt kluge Essays zu verschiedenen Werkphasen Richters vor. Außerdem äußert sich der sonst so schweigsame Künstler in einem langen Interview (Prestel Verlag, in der Ausstellung broschiert 29 Euro).
Atlas. Soeben neu aufgelegt ist die gedruckte Komplettpublikation des "Atlas" von Gerhard Richter, ein Materialsteinbruch mit Tausenden von Fotos auf 850 Seiten (Verlag Buchhandlung Walther König, 49,90 Euro).
Werkkatalog. Der erste Teil von Richters Gesamtwerkkatalog ist jüngst im Hatje Cantz Verlag erschienen und umfasst die Jahre 1962-68 (512 Seiten, 248 Euro).
Multipes. Das private Berliner Ausstellungsforum Me Collectors Room zeigt  die von Gerhard Richter herausgegebenen Editionen, darunter Grafiken, Mappenwerke, Künstlerbücher und übermalte Tonträger.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 13. Februar 2012

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