Von Elke Linda Buchholz - Eine opake weiße Farbschicht legt sich wie eine Schneedecke
über die Bildoberfläche. Nur an wenigen Stellen schimmert die grau in grau gemalte,
Szene darunter durch. Was Gerhard Richter hier nahezu zum Verschwinden gebracht
hat, enthüllt erst ein Blick auf die Bilder seines RAF-Zyklus: Es ist das
Interieur der Zelle Gudrun Ensslins in Stuttgart-Stammheim, mit dem
schattenhaften Körper der Erhängten. Unheimlich, vage und trotzdem eindringlich
vergegenwärtigen die verwischten, nach Pressefotos gemalten Bilder die Akteure
und Orte von 1977. Das Gemälde "Decke" aus Privatbesitz und der
berühmte 15teilige RAF-Zyklus aus dem Museum of Modern Art in New York treffen
jetzt im Schinkelsaal der Alten Nationalgalerie aufeinander. Hier, umgeben von klassischen
Historienbildern des 19. Jahrhunderts, erweisen sie sich als Versuch in einer
Gattung, die es eigentlich schon längst nicht mehr gibt: der Historienmalerei. Gleich
nebenan hängt Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer". Um Richters fotorealistische
Variante des romantischen Seestücks zu sehen, muss man in den Mies van der Rohe-Bau
ans Kulturforum fahren.
Dort versammelt die Retrospektive "Panorama" zum
80. Geburtstag Gerhard Richters 130 Werke als Kondensat aus 50 Schaffensjahren
und einem Gesamtoeuvre von 3400 Werken. Darunter ausgewählte Ikonen wie der eine
Treppe herabsteigende Akt und die brennende Kerze, das von hinten gesehene
Porträt einer Frau im rotgeblümten Bademantel und die stille, an Vermeer
erinnernde "Lesende", aber auch die vom Publikum weniger geliebten, abstrakten
Werke wie die Grauen Bilder, die aleatorischen Farbtafelarbeiten und freien Improvisationen.
In London, der ersten Ausstellungsstation, war dieselbe Auswahl
in Themenräumen geordnet. In Berlin lässt sich Richters Werkentwicklung weitgehend
chronologisch abschreiten. In der großen Glashalle des Mies van der Rohe-Baus zieht
sich rundum die architekturbezogene Arbeit "4900 Farben", ein Fries
aus 196 emaillierten Farbquadrattafeln. Dann eröffnet Richters jüngstes Werk, das
Großformat "STRIP" von 2011, den Rundgang. Das haarfeine
Streifenmuster in sommerlichem Orange, Blau, Grün, Türkis und Gelb ist ein
Digitaldruck und scheint die flirrende Farbigkeit des Impressionismus mit der nüchternen
Perfektion des Computerzeitalters zu versöhnen. Dass Richter seit mehr als zwei
Jahrzehnten fast ausschließlich abstrakt malt, macht der erste Raum deutlich. Hier
darf man förmlich in der herben Schönheit der meterhohen Farbimprovisationen schwelgen.
Mal leuchten sie kirschrot mit darunter durchblitzenden smaragdgrünen Farblagen,
mal weiß in weiß, mal schrundig wie abblätternde Hauswände in der sechsteilige
Folge "Cage" von 2006. Es ist eine Hommage an John Cage, den großen Komponisten
des Zufalls, der Alltagsgeräusche und des Fast-Nichts. Auch Richters abstrakte
Farbüberlagerungen geben zufälligen Prozessen Raum. Er selbst bezeichnet sie
als "Landschaften, die es nicht gibt".
Der chronologische Werkdurchlauf beginnt mit der Nummer 1 in
Richters autorisiertem Oeuvreverzeichnis. Das rüde mit Farbschlieren
überschmierte Abbild eines Tisches stammt aus dem Jahr 1962, als Richter noch
Student der Düsseldorfer Akademie war. Was der 1932 in Dresden geborene
Künstler davor in der DDR produzierte, blendet er aus. Der "Tisch"
wirkt ratlos, wütend, hässlich. Gegenüber hängt ein Spiegel und reflektiert Bild
und Betrachter. Das klug kuratierte Zusammentreffen zwischen dem Frühwerk und
der 1981 entstandenen Spiegelinstallation lenkt den Blick auf eine Konstante in
Richters Werk. Von Anfang an hinterfragt er die Möglichkeiten des Bildes und der
Darstellbarkeit. Das muss man aushalten.
In den 1960er Jahren malt der Künstler, was er aus Zeitungen
klaubt: Wäschetrocknerwerbung, Unfallfotos, Bombengeschwader. Es ist die
Medienwelt eines Andy Warhol, aber in schwarzweiß und im malerisch
verunklärenden Duktus, der zu Richters Markenzeichen wird. Auch die privaten Fotoalben
geben Bildvorlagen her: der Künstler als Baby mit Tante Marianne, ein Onkel mit
Hund. Unterschwellig transportieren die schwarzweißen Gemälde das Grauen der NS-Zeit
mit. Richters schizophrene Tante Marianne wurde ermordet. Als er das Bild
malte, wusste er nichts davon. Was ist sonst noch bildwürdig? Eine
Klopapierrolle. Bildfüllend und lapidar vom Foto abgemalt, widerspricht sie mit
Trotz und Witz Marcel Duchamps Ready Made eines Pissoirs und dem angeblichen Ende
der Malkunst.
Aber Richter will nicht als Altmeister der verwischten
Fotoabmalerei in die Kunstgeschichte eingehen. Schon in den 60ern und 70ern
testet er weitere Alternativen aus. Ab jetzt ist alles gleichzeitig präsent: Strukturen
und Malfakturen im Blow-Up zum Bildthema aufgeblasen, farbige Schlieren und
verwischte Landschaften, Mondoberflächen, Meereswellen, Wolkenhimmel.
Die Ausstellung orchestriert die widersprechenden Ansätze als
harte Dissonanzen. Zugleich gelingen verblüffende Dialoge. So ist mitten in der
deprimierenden Phase der monochromen grauen Bilder, die sich einem Nullpunkt
der Malerei nähern, plötzlich Tizian da. Unendlich zart und schwebend versucht
Richters Malerei, die "Verkündigung" des italienischen Koloristen zu
evozieren, wie ein fernes Echo. Kein einziger Pinselstrich lässt auf dem nach
einer Kunstpostkarte gemalten Bild ausmachen. Malerei ist ein Wunder: Richters
Werk beharrt darauf.
Der Künstler selbst tritt bescheiden und leise auf. Spricht
vom Scheitern. Lacht. Und überlässt es lieber anderen, sein Werk zu
interpretieren. Welches sein Lieblingsbild in der Ausstellung ist? Richter
zögert. Dann wagt er sich doch aus der Deckung und verweist auf die unscheinbare
Ansicht eines verschneiten Gehöfts. Warum gehört gerade dieses kleine Bildchen zu
den unverkäuflichen? Richter schweigt und lächelt, wie auf fast alle Fragen,
die man ihm stellt.
Öffnungszeiten. Bis
13. Mai 2012, Di-So 11-18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Mo geschlossen. Mehr Infos unter http://www.smb.museum
Katalog. Auf über
300 Seiten bildet das Katalogbuch alle Exponate ab und legt kluge Essays zu
verschiedenen Werkphasen Richters vor. Außerdem äußert sich der sonst so
schweigsame Künstler in einem langen Interview (Prestel Verlag, in der
Ausstellung broschiert 29 Euro).
Atlas. Soeben neu
aufgelegt ist die gedruckte Komplettpublikation des "Atlas" von
Gerhard Richter, ein Materialsteinbruch mit Tausenden von Fotos auf 850 Seiten
(Verlag Buchhandlung Walther König, 49,90 Euro).
Werkkatalog. Der
erste Teil von Richters Gesamtwerkkatalog ist jüngst im Hatje Cantz Verlag
erschienen und umfasst die Jahre 1962-68 (512 Seiten, 248 Euro).
Multipes. Das
private Berliner Ausstellungsforum Me Collectors Room zeigt die von Gerhard Richter herausgegebenen
Editionen, darunter Grafiken, Mappenwerke, Künstlerbücher und übermalte
Tonträger.
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 13. Februar 2012
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