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Donnerstag, 5. Januar 2012

Im Theater (30): Dantons Tod im Berliner Ensemble

Wenn Schauspieler so wirken, als wären sie der Rolle, die sie spielen sollen, nicht gewachsen, wen soll man dafür haftbar machen? Das ist die mit Abstand drängendste Frage, zu der Claus Peymanns jüngste Inszenierung am Berliner Ensemble den Kritiker nötigt. Wen darf der Blitzstrahl des Verrisses treffen? Aber klar, nicht die Schauspieler, sondern den Regisseur, der in diesem Fall zugleich der Intendant ist und dem in Besetzungsfragen bestimmt niemand reinredet. Wenn Schauspieler ihre liebe Not mit einer Rolle haben, sind Regisseure dazu da, ihnen zu helfen. Wenigstens sollten sie die Schauspieler nicht hindern, auf der Bühne eine gute Figur zu machen. Das gelingt dem 26-jährigen Ulrich Brandhoff in der Titelrolle von „Dantons Tod“ wahrlich nicht, obwohl er sich fleissig bewegt und jedes Wort Büchners bis in die letzte Zuschauerreihe zumindest akustisch zu verstehen ist. Aber was nützt es, wenn dahinter nichts zu spüren ist, kein Drama, kein Kampf, keine Charakter? 

Das schwarze Loch im Zentrum der Inszenierung fällt fatal auf, denn es ist für eine Peymann-Aufführung eigentlich atypisch. Peymanns verlässliches Handwerk brachte früher ein Traugott Buhre, ein Gert Voss oder eine Kirsten Dene erst zum Strahlen, in der Spätzeit am Berliner Ensemble retteten ein Michael Maertens oder eine Carmen-Maja Antoni mittelprächtige Abende. Peymann wurde geschätzt als Ermöglicher, nicht als Konzeptregisseur. Er liebte und verehrte eigensinnige Ausnahmeschauspieler, engagierte einen Ulrich Mühe, Bernhard Minetti und Sepp Bierbichler – und ließ sie gewähren, zu seinem eigenen Vorteil. Danton ist Lebemann und Volkstribun, angefressen von Melancholie, nicht umsonst hat ihn Büchner ins Zentrum der Revolutionsereignisse gestellt. Es braucht eine starke Schauspielerpersönlichkeit, um den Fliehkräfte dieser Figur und ihren Richtungswechseln eine Mitte zu geben. Bei Brandhoff zerfasert sie. Um den Hauptdarsteller herum sieht es indes nicht viel besser aus. Dantons betrogene Gattin Julie (Anke Engelsmann), der junge Revolutionär Camille Desmoulins (Felix Tittel) und seine junge Frau Lucile (Antonia Bill) bleiben ähnlich blass. Auch ihr Untergang im Strudel der Schreckenherrschaft lässt daher kalt. 
Wenigstens schafft es Veit Schubert als Robespierre, den tugendhaften Revolutionswächter nicht allzu schematisch aussehen zu lassen: Den strengen Mann plagen Skrupel, als er seinen Rivalen Danton und den Schulfreund Camille unter die Guillotine manövriert. Doch während Robespierre noch seine Gewissenbisse pflegt, zieht schon ein kühler Zyniker im Hintergrund seelenruhig die Fäden. „Er tut so, als ob er was zu sagen hätte“, sagt St. Just (Georgios Tsivanoglou) über Robespierre so beiläufig, dass in diesem einen Satz die ganze komplizierte Machtkonstellation schlagartig durchsichtig wird. So punktgenau fällt leider selten ein Wort. St. Just hat keine Moral, aber eine Vision. Die „alte verdorbne Generation“ muß weg, dazu ist ihm jeder schmutzige Trick recht: „Die Menschheit wird aus dem Blut wie die Erde aus den Wellen der Sündflut mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum ersten Male geschaffen.“ Die mächtige Triebfeder der Revolution ist das ausgebeutete, hungernde, mit der Massenhinrichtung von Sündenböcken abgespeiste Volk. Bei Peymann schaut es wie Edelpöbel aus, oder um es mit Büchner zu sagen, wie „Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut.“ Schön garstig keift Ursula Höpfner-Tabori als Hure und Mutter, die ihr Kind auf den Strich schicken muss. Angela Winkler hat einen Gastauftritt als Dantons Geliebte Marion, mit der ihr eigenen Zartheit erzählt sie Marions Lebensgeschichte, von ihrem unstillbaren Hunger nach Männern.
Zu den festen Größen des Peymanntheaters gehört seit 40 Jahren der Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann. Er hat eine sehr zweckmässige Bühne für die raschen Szenenwechsel gebaut, vorne an der Rampe ein Kasten, dahinter eine Art lange Straßenflucht, die auch als Kerker und Gerichtssaal nutzbar ist. Funktioniert alles tadellos, verstärkt aber die Puppentheateratmosphäre, die sich auch durch die weiß geschminkten Gesichter der komplett weiß oder schwarz eingekleideten Revolutionsführer einstellt.
Die ganze Inszenierung wirkt wie unter eine Käseglocke ausgebrütet, abgedichtet gegen jeden Einfluss der Welt außerhalb des Berliner Ensembles. Jeder Gang, jede Geste, jeder Ton kommt einem vor, als hätte man ihn im Peymann-Theater vor vielen Jahren schon mal gesehen oder gehört. Gewiss, das Leben und das Theater bestehen zu 99,9 % aus Wiederholungen, aber nicht deswegen geht man hin. Sondern weil das Theater ein Ort der Freiheit ist, an dem Überraschungen, Entdeckungen, Einsichten möglich sein sollten, für die anderswo kein Platz ist. Davon hat Büchner geträumt, das hat den gescheiterten Revoluzzer zum unkonventionellsten, schlechthin wegweisenden Dramatiker des 19. Jahrhunderts gemacht. Am Berliner Ensemble benutzt ihn Peymann, um zum wiederholten Mal die Tauglichkeit einer Aufführungspraxis zu demonstrieren, die einst fortschrittlich war, aber sich mehr und mehr von der Entwicklung des sonstigen Theaters und der Gesellschaft abgekoppelt hat. Nicht einmal von der unerhört freien und freizügigen Sprache Büchners lässt sich das Berliner Ensemble noch aus der Produktionsroutine bringen. Eine Parallelwelt, die sich offenbar selbst genügt.
Wo soll dieses endlose Trauerspiel hinführen? Peymanns Intendantenvertrag läuft noch bis 2014, o weh! Und er hat sein Haus so fest im Griff, dass eine Palastrevolution nicht zu erwarten ist. Nun ja, das hat man von den arabischen Diktatoren auch gedacht. Während der Theaterpause tauchten auf dem ersten Rang plötzlich ein paar kostümierte junge Leute auf, stimmten revolutionäre Parolen und Lieder an. Das ist Teil der Inszenierung, dachte man erst, noch so ein Theatertrick aus der Mottenkiste. Dann flatterten Hunderte Flugblätter ins Parkett, auf denen die prekären Beschäftigungsverhältnisse im Haus angeprangert werden: „Gesellschaftskritische Stücke spielen und gleichzeitig Menschen ausbeuten – das ist die Wirklichkeit am Berliner Ensemble.“ Tatsächlich kämpft das bei Ver.di organisierte Theaterpersonal mit derartigen Aktionen schon seit Monaten um einen Haustarifvertrag. Ein überraschender Auftritt, wenigstens.
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 5. Januar 2012
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1 Kommentar:

  1. Es ist die vornehmste und zugleich diffizilste Pflicht des Kritikers, zuerst vom Werk und nicht dem eigenen Verdauungsprodukt des selben auszugehen. Wo letzteres geschieht, kann denn eine eigentliche Intention eines Intendanten zu einer scheinbar unfreiwilligen Selbstparodie ad absurdum interpretiert werden, wie hier vorexerziert, wenn der Kritiker so spektakulär übersieht, dass ihm die "Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut" nicht versehentlich sondern mit voller Absicht als solche vorgeführt werden. Lieber Kritiker: üben, üben, üben.

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