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Montag, 2. Januar 2012

Europa, ein Schmelztiegel


Ein echter Europäer:
der Döner.
Gibt es Schöneres, als sich in den beinahe menschenleeren Sälen eines Museumslabyrinths zu verlaufen? In Berlin-Dahlem wird die Suche nach dem Museum Europäischer Kulturen unversehens zur Weltumrundung. An Steinfiguren und Goldschätzen aus Südamerika und Indianerfederschmuck vorbei führt sie in eine Sackgasse mit Segelbooten aus der Südsee. Der Rückweg ins Richtung Foyer endet vor Ostasien. Eine Treppe höher leuchten afrikanische Masken aus geheimnisvoller Dunkelheit, dort öffnet sich überraschend eine Seitentür in die „Welten der Muslime“.
Diese Dauerausstellung ist auch erst im November eröffnet worden. Afghanistan rückt hier plötzlich ganz nah. Die bemalte hölzerne Fassade eines Gästehauses, Teppiche und Kochkessel erzählen von traditioneller Gastfreundschaft statt vom Krieg. Bunte Gewänder von Derwischen aus dem Iran und Amulette gegen den bösen Blick belegen die religiöse Vielfalt innerhalb des Islam. Wie verschieden mit dem Verhüllungsgebot für Frauen umgegangen wird, machen verschiedenste kostbare Gesichtsschleier und ornamentale Fenstergitter sinnfällig.
Einen Dönerspieß aus Plastik, eigentlich gedacht als Außenreklame für einen Schnellimbiss, gibt es auch sehen – aber nicht in den „Welten der Muslime“, sondern eine Etage tiefer, wo endlich das Museum europäischer Kulturen auffindbar ist.
Ethnologisch stichhaltig, weil Döner mit Salat im Brot von Berlin aus seinen Siegeszug durch Europa angetreten hat, sogar in China ist er schon gesichtet worden. Der Islam gehört wie das Judentum schon sehr viel länger zur europäischen Kultur. Das gelbe Seidengewand eines Mullahs von der Krim und der Mantel einer Bosnierin aus dem 19. Jahrhundert ziehen den Blick auf sich, sobald man in die Dauerausstellung eingetreten ist.
Ihr Dreh- und Angelpunkt ist eine venezianische Prachtgondel, die auf einem kuriosen Umweg ins Museum kam: 1975 schenkte ein italienischer Kaufmann das 14 Meter lange Boot einem Berliner Geschäftsfreund, der damit über den Halensee schipperte. Die Gondel symbolisiert den seit Jahrhunderten ununterbrochenen Kultur- und Ideetransfer, der Europa so reich gemacht hat. Sie steht freilich auch für die Verwandlung Venedigs von einer mächtigen Handelsmetropole in ein Reiseziel des Massentourismus, in dem die Gondeln ihre ursprüngliche Funktion als alltägliches Transportmittel längst verloren haben.
Niemand muss seinen Ort verlassen, um mit Bildern und Bräuchen aus anderen Kulturen in Berührung zu kommen. Was heute die elektronischen Medien besorgen, leisteten im 19. Jahrhundert Klebebildchen für Sammelalben. Oder ein Papiertheater aus Esslingen mit Dekorationen für eine Aufführung von Jules Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“. Kollektionen von Espresso- und Mokkatassen aus vielen Ländern zeigen die Bereitschaft, sich fremde Gewohnheiten einzuverleiben.
Ob das preußische Empirekleid aus französischer Seide, die Votivbilder oder die vierzehn Meter breite Weihnachtskrippe mit beweglichen Holzfiguren aus dem Erzgebirge – alle ausgestellten Objekte sind Hybride, lassen sich also zwar bestimmten regionalen Kulturen zuschreiben, aber niemals eindeutig. Gilt das etwa für die Mehrheit der 225.000 Objekte, die allein das Museum Europäischer Kulturen besitzt? Erst 1999 gegründet, hat es das Erbe des aufgelösten Museum für Deutsche Volkskunde angetreten und zugleich die  europäischen Sammlungen des ethnologischen Museums übernommen. Beide waren im 19. Jahrhundert gegründet worden. Nun folgt die Neuordnung der Museumslandschaft dem Einigungsprozeß Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die heutigen Völkerkundler fragen nicht mehr nach dem, was die Europäer unterscheidet, sondern was sie verbindet – selbst dann, wenn sie sich durch Kostümierung, Grenzziehung oder die Pflege regionaler Bräuche voneinander zu unterscheiden versuchen.
Folgerichtig endet die Reihe der ausgestellten Trachten und Karnevalskostüme bei den Nationaltrikots von Fatmire Bajramaj und Mezut Özil. So eine  Sportuniform definiert den Träger eindeutig als Vertreter Deutschlands. Wenn dieser aber unübersehbar Vorfahren im Ausland hat, verkehrt sich das antiquierte Instrument nationaler Abgrenzung in ein Symbol gelungener Integration.
Und wer sind wir Europäer denn nun wirklich? Das würde man zu gerne wissen in einer Zeit, in der die politische Union wegen der Schuldenkrise wackelt. Doch ein trennscharfe Antwort gibt es nicht, das legt zumindest diese Ausstellung nahe. Die Berliner Ethnologen entlassen die Besucher mit einem Bild von Bootsflüchtlingen auf dem Mittelmeer, die ihr Leben riskieren, um ein Teil von Europa zu werden. Sie sind, vielleicht, die wahren Europäer der Zukunft.

MUSEUM DER WELTKULTUREN Die ethnologischen und Kunstsammlungen in Dahlem umfassen 500.000 Objekte aus allen fünf Kontinenten. Sie werden dort erstmals unter einem Dach präsentiert, nachdem andere Sammlungen auf die Museumsinsel und ans Kulturforum umgezogen sind.
ÜBERGANGSLÖSUNG Sobald das als Humboldt-Forum wiederaufgebaute Schloss fertig ist, sollen die ethnologischen Sammlungen dorthin umziehen. Vor 2019 wird das aber nicht möglich sein. Den sanierungsbedürftigen Dahlemer Komplex  will die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gänzlich aufgeben.
KATALOGE „Kulturkontakte – Leben in Europa“, Koehler & Amelang 2011, 200 Seiten, 35 Euro
„Welten der Muslime“, Reimer Verlag, Berlin 2011, 240 Seiten, 39,95 Euro

Erstveröffentlichung: STUTTGARTER ZEITUNG vom 2. Januar 2012

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