Das
von Armin Petras geleitete
Maxim-Gorki-Theater reagierte auf das Jubiläum in vertrauter Manier: Nicht mit
der Inszenierung eines Dramas, sondern - wieder mal - mit der Verarbeitung
eines Prosatextes. Die frühe Novelle „Bahnwärter Thiel“ erzählt vom
Wahnsinnigwerden eines Durchschnittsmenschen in den märkischen Kiefernwäldern
um die Millionenstadt Berlin, die Funken sprühende Lokomotiven durch die Einöde
donnern lässt. In den flammenden Naturschilderungen und Traumdelirien der
Novelle von 1887 kündigt sich bereits der Expressionismus an. Ein verkapptes
Bühnenstück ist dieser Text indes nicht. Regisseur Armin Petras, der unter dem
Pseudonym Fritz Kater Dramen schreibt, hatte auch keine Stückfassung in Sinn.
Der gekürzte Hauptmann-Originaltext liefert ein Gerüst für ein fantasievolles
Schau-Spiel mit zwei Schauspielern, einer Tänzerin, drei Schattenspielern,
Videoprojektor, Plattenspieler nebst weiteren Theaterrequisiten.
Für
diesen Zugriff hat die Dramaturgie einen Freibrief ausgegraben, den sie stolz
im Programmheft präsentiert, es handelt sich um Anfangssätze einer Rundfunkrede
Hauptmanns von 1930: „Die Bühne ist an sich eine Plattform, weiter nichts, auf
der alles geschehen kann. Schaustellungen aller Art haben Recht auf diese
Bühne.“ Zur Bekräftigung dieser These beginnt die Aufführung mit einem heiteren
Schattenspiel. Neben der Bühne arrangiert die Tänzerin Diane Gemsch aus
frischen Blättern und Ästchen auf einem Leuchttisch ein Bild, das stark
vergrößert auf einen Transparentvorhang projiziert wird. Dahinter agieren zwei
Schauspieler lebensgroß pantomimisch: Die erste Hochzeit des Bahnwärters und
der Tod der Frau bei der Geburt des Kindes Tobias sind so in wenigen Sekunden
anmutig erzählt.
Mit
Eisenbahnermütze tritt der Schauspieler Peter Kurth vor die Projektionswand und
spricht den Anfang der Novelle. Die Figur des Bahnwärters scheint ihm auf den
Leib geschrieben, der massig und kraftvoll in der Uniform steckt. Seine zweite
Frau Lene, heißt es in der Novelle, sei eine ehemalige Kuhmagd von
einschüchternder Körperlichkeit, beseelt von Herrschsucht und „brutaler Leidenschaftlichkeit“.
Diese weibliche Urgewalt verkörpern auf der Bühne zwei eher schlanke
zwillingsähnliche Blondinen, die Thiel gemeinsam unterjochen (Diane Gemsch und
Regine Zimmermann). Tänzerisch ziehen sie die Schlinge der sexuellen
Abhängigkeit immer enger um den Bahnwärter (in Choreografien von Berit
Jentsch), bis hin zu alptraumhaften Szenen, in denen er mit
theaterblutverschmierten Frauenkörpern ringt.
Thiels
Sohn Tobias wird von der bösen Stiefmutter misshandelt. Der Kleine bleibt
unsichtbar, ist nur in den Vogelstimmen anwesend, die Thiel ihm vorpfeift und
im Tonbandecho auf dessen Frage, was der Junge mal werden wolle: „Ein
Bahnmeister!“ Eine Lokomotive zermalmt das Kind während eines Familienausflugs
auf dem von Thiel bewachten Streckenabschnitt. Lange vorher schon jagen
fratzenhafte Schemen über den Projektionsvorhang auf der Bühne, ehe dieser sich
hebt und das unheimliche Schattenspiel aus Menschen und Puppen räumliche Tiefe
gewinnt: In der Seele des einfachen Bahnwärters herrscht brodelndes Chaos.
Das
ist der visuelle Höhepunkt des Abends, was danach noch an Katastrophen kommt,
wirkt unterspielt. Auf wacklige
Videos von einer S-Bahn-Fahrt ins Umland folgen Musiknummern („Ich wünschte
Liebe ohne Leiden“, singt Regine Zimmermann) und das Ins-Publikum-Erzählen der
finalen Katastrophe: „Lene lag in ihrem Blut, das Gesicht unkenntlich, mit
zerschlagener Hirnschale“. Der Holzrahmen auf der Bühne (von Olaf Altmann), in
dem Thiel regungslos verharrt, neigt sich hochbedeutsam zur Seite - aber hat die
Figur ihr Gleichgewicht nicht sehr viel früher verloren? Geschickt arrangiert,
passen die Szenen zuletzt doch nicht wirklich zusammen.
Gewiss,
das freie Spiel mit der literarischen Vorlage produziert erheblichen
theatralischen Schauwert. Und jeder Deutschlehrer, der mit seinen Schülern die
Novelle durchnimmt, wird froh sein über dieses kurzweilige Zusatzangebot. Eine
wirklich zwingende Lesart oder Neuerzählung mit den Mitteln des Theaters aber
will sich an diesem Abend nicht einstellen.
Zum Spielplan
Erstdruck: Stuttgarter Zeitung vom 19. November 2012
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