Zuerst ist da nur eine energische Frauenstimme aus dem Dunklen. „Hallo, hallo, wo seid ihr? Habt ihr mich vergessen?“ Neben einem prachtvollen Blumenstrauß sitzt eine elegant gekleidete, weißhaarige Dame in einem Armsessel auf der leeren Bühne der Kammerspiele. Diese Szenerie rahmt ein verkleinerter Bühnenportalnachbau der Hauptbühne des Deutschen Theaters (von Hans-Jürgen Nikulka), was zumindest auf Ortskundige reichlich witzig wirkt. Ebenso ironisch ist das Doppelspiel, das Inge Keller mit ihrer Rolle treibt: Dem Text nach verkörpert sie die Schauspieldiva Tilla Durieux, die 1970 im Alter von 90 Jahren zum Ehrenmitglied des Deutschen Theaters ernannt wurde. Auch Inge Keller ist Trägerin dieser seltenen Auszeichnung. Die Eitelkeiten und Altersmacken der Figur, die sie mit haarfeiner Übertreibung dem Lachen des Publikums ausliefert, könnten ihre eigenen sein, doch Inge Keller lässt es in der Schwebe, wie locker sie hier mit ihren Altersgebrechen kokettiert.
Fast nur mit den Modulationen und Betonungen ihrer tiefen Stimme unterhält sie von ihrem Sessel aus die Zuschauer während der ersten 20 Minuten der Aufführung königlich. Und wer wollte ihr böse sein, wenn sie von der Höhe des Schauspielerolymps auf das zeitgenössische Bühnentreiben herablästert. Zu ihrer Zeit, erzählt die Diva mit gespieltem Erstaunen, habe es eine Schauspielerin gegeben, die nicht singen konnte und trotzdem ein Star wurde. „Um heute berühmt zu werden, muss man vor allem nicht sprechen können.“
Aber hinter der entwaffenden Leichtigkeit dieser Spieleröffnung, das spürt man bald, stecken eine schier übermenschliche Arbeitsdisziplin und ein eiserner Wille. „Das, was leicht war, ist schwer geworden im Alter“, hat Inge Keller sibyllinisch auf die Frage der Hausdramaturgen geantwortet, wie sie ihre Rollen lerne. Eineinhalb Stunden textsicher zu monologisieren, einen ganzen Abend fast allein zu stemmen, das geht dann doch über die Kräfte der 88-jährigen. Zwei Drittel des Abends liest sie den „Tilla“-Text von Christoph Hein aus einer großen Kladde. Er ist die zweite Hälfte eines umfangreicheren Stücks, in dem der Autor die Biografie des in Nazideutschland verbliebenen Schauspielerstars Emil Jannings mit der Lebensgeschichte der Tilla Durieux konfrontiert. Sie musste 1933 aus Deutschland fliehen, ihr dritter Mann wurde im KZ Sachsenhausen ermordet, in Jugoslawien schloss sie sich dem Widerstand an und arbeitete als Schneiderin, ehe sie in den Fünfzigern in Deutschland wiederentdeckt und mit Ehrungen überhäuft wurde.
Aus dieser prallen Vita lässt Hein die Figur vor allem ihre Ehegeschichte mit dem Kunsthändler Paul Cassirer ausbreiten: Er, ihr zweiter Mann, nahm sich das Leben, als die Durieux die Scheidung von ihm durchgekämpft hatte. Das liefert einen dankbaren dramatischen Höhepunkt für den Theatermonolog, macht aber die historische Figur eher klein. Kein Wort davon, dass die Durieux ihren dritten Mann Ludwig Katzenellenbogen in der Weimarer Republik anstiftete, Erwin Piscators politisches Theater zu finanzieren. Gerne wüsste man mehr über ihren besonderen Zugang zur Schauspielkunst, statt dessen lamentiert Heins Figur ausführlich über Klatsch, Tratsch und üble Nachrede, die Schattenseite ihres Starlebens.
Der schlaksige Schauspielerkollege Bernd Stempel ist als Sekundant um Inge Keller, spielt den Diener, der ihr hilft, die paar mühseligen Meter vom Lehnstuhl auf ein Sofa zu bewältigen, später kehrt er als die große Liebe Paul Cassirer barfuß im weißen Anzug aus dem Jenseits zurück. Ein Eigenleben gewinnt die Figur nicht, bleibt Stichwortgeber für die alte Dame, ist wohl nur ein Trugbild ihrer Einbildungskraft. Die langjährige Kollegin Gabriele Heinz hat den Abend um Inge Keller herum arrangiert, den Begriff „Regie“ vermeidet das Programmheft vorsichtigerweise.
Es ist nobel und rührend, wie sich das Deutsche Theater um den Star der DDR-Jahre bemüht, deren Bühnenästhetik es in den letzten Jahren unbedingt hinter sich lassen wollte, nicht ohne Erfolg. Unvergesslich bleibt der letzte Blick auf die Schauspielerin, als sie ganz allein, von der Anstrengung des Abends gezeichnet, den stehenden Applaus entgegennimmt, sich dabei an einer Wand festhalten muss und wie mit letzter Kraft ihrem Publikum ein Lebewohl zuwinkt.
ERSTDRUCK: Stuttgarter Zeitung vom 5. November 2012
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