Kann
mal jemand die Hintergrundmusik abstellen? Das traut sich natürlich niemand in
die Premiere hineinzurufen, aber der Gedanke liegt in der Luft. Denn was sich
vorn auf der Bühne an persönlicher Tragik abspielt, schwimmt in einer
melancholischen Klang- und Sangsoße, die das Unbekömmliche ungenießbar macht.
Was ist bloß in den Regisseur Andreas Kriegenburg gefahren, dass er die zarte
Musikalität des neuen Stücks von Dea Loher derart verkleistert?
Die
Erwartungen an die Uraufführung von „Am Schwarzen See“, ein Auftragswerk des
Deutschen Theaters waren hoch, immerhin hatten Loher und Kriegenburg 2008 für
„Das letzte Feuer“ den „Faust“-Theaterpreis abgeräumt und waren 2010 mit
„Diebe“ zum Theatertreffen eingeladen. „Am Schwarzen See“ ist die dreizehnte
Uraufführung eines Loher-Stücks durch Kriegenburg innerhalb von 17 Jahren. Nach
den figurenreichen und streckenweise komischen Stücken der jüngsten Zeit
überraschen Autorin und Lieblingsregisseur nun mit einem bleischweren
Kammerspiel: Zwei Ehepaare verbringen einen Abend und einen Tag miteinander. Wie
in solchen Dramen unvermeidlich, werden die ungelösten Konflikte und
ungestillten Sehnsüchte in Dauerbeziehungen allmählich freigelegt. Doch bei
Loher fliegen nicht die Fetzen wie im Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia
Woolf?“ oder in Yasmina Rezas Erfolgsstück „Der Gott des Gemetzels“. Lohers
Paare quält ein gemeinsames Trauma: Ihre Kinder Fritz und Nina haben als
Jugendliche zusammen Selbstmord begangen.
Vier
Jahre ist das her. Nun machen der Bankangestellte Johnny (Jörg Pose) und seine
herzkranke Frau Else (Katharina Marie Schubert) erstmals wieder Station am
Schauplatz der Katastrophe: In der alten Familienbrauerei am Schwarzen See lebt
immer noch das überschuldete Besitzerehepaar Cleo und Eddie (Natali Seelig und
Bernd Moss). Begegnungsort ist ein ungemütlicher, leer geräumter Riesensaal mit
fleckigen Wänden ohne Aussicht ins Freie (von Harald Thor). Wie es um die
Bewohner steht, ist klar, ehe das erste Wort gesprochen ist: Eddie versucht ein
unangenehmes Körpergefühl zu bekämpfen, sein Kratzen und Umsichschlagen
steigert sich bis zu einem unkontrollierbaren Anfall, der erst durch Cleos
Berührung abebbt. Solche stummen Szenen, in denen die Figuren rein physisch mit
ihrem Schmerz, ihrer Trauer, ihrer Beschädigung kämpfen und sich ineinander
verklammern, folgen noch mehrere, und sie gehören zu den stärksten des Abends.
Wie
in früheren Loher-Inszenierungen von Kriegenburg gleitet langsam die Drehbühne
unter ihnen weg, das verlangt von den Schauspielern wie den Figuren ständige
Aktivität, um den ausweglosen Status Quo aufrecht zu erhalten: Sonst fahren sie
buchstäblich gehen die Wand. Der ganze Raum und die Figuren scheinen verhext. Anfangs
ist dieser magische Realismus sehr schön anzusehen, doch spätestens nach einer
Stunde ist klar, dass dieses Auf-der-Stelle-Treten nimmer enden wird. Und dann noch
folgenden Enthüllungen sind weder originell noch überraschend: Dass die
zupackende Cleo sich längst von ihrem Mann scheiden lassen wollte, dass Johnny
fremd geht, dass die fragile Else selbstmordgefährdet ist. Alles an diesen Ehen
ist so schrecklich gewöhnlich, dass man die beiden Jugendlichen verstehen kann,
die so nicht dahinleben wollten und ihren romantischen Liebestod inszeniert
haben, ehe sie erwachsen wurden.
„In
Wirklichkeit ist es doch so, dass wir sie beneiden um diesen Tod“, konstatiert
die vernünftige Cleo gegen Ende. Daraufhin schlägt Eddie „sie einmal ins
Gesicht mit großer Wucht“, so die Szenenanweisung im Text, und Else schneidet
sich die Pulsadern auf. Beide Gewaltakte nimmt man in der Inszenierung gar
nicht als dramatische Zuspitzung wahr. Musik aus dem Off stellt den
melancholische Leidenston sofort wieder her, die Inszenierung verdämmert, wo
auch ein abrupter Schnitt denkbar gewesen wäre. Ein Teil des Publikums schien
erst beim freundlichen Schlußapplaus wieder richtig aufzuwachen.
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 3. November 2012
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen