Nach zwei Jahren Spielpause ist während des Theaterferien-Sommerlochs im Tipi am Kanzleramt wieder das Berlin-Musical Cabaret zu sehen. Die höchst erfolgreiche Inszenierung ist inzwischen neun Jahre alt, wir fanden sie schon bei der Premiere ein wenig angestaubt, aber durchaus sehenswert. Die Besetzung wurde inzwischen mehrfach ausgetauscht. Hier Michael Bienerts Premierenkritik aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 25. Oktober 2004, erschienen unter dem Titel "Ein sauberes Cabaret":
Manche Theateraufführungen beziehen ihren unwiderstehlichen Reiz aus dem Ort, an dem sie stattfinden. Darauf spekulierten die Betreiber der Berliner "Bar jeder Vernunft", als sie das finanzielle Wagnis eingingen, ein aufwändiges Musical auf den Spielplan ihrer intimen Kleinkunstbühne zu setzen. "Cabaret" im Varieté: Diese Rechnung scheint aufzugehen. Schon vor der Premiere lagen tausende Kartenvorbestellungen vor, hatten die Wiener Festwochen die Produktion für das Jahr 2006 eingeladen. Die bloße Vorstellung, das Zwanziger-Jahre-Musical an kleinen Tischen im intimen Jugendstilambiente des Spiegelzelts serviert zu bekommen, wirkte bereits enthusiasmierend.
Da die Zuschauer dort nicht nur Voyeure vor einer Guckkastenbühne sind, sondern zugleich unentbehrliche Statisten im Kit Kat Klub des Stücks, beginnt die Inszenierung, sobald man den Mantel an der Garderobe im Vorzelt abgegeben hat. Während die Eintretenden ihre Plätze angewiesen bekommen, kulinarisch versorgt werden, Promis andere Promis begrüßen, erreichen Spannung und Raumtemperatur einen ersten Höhepunkt. Dieser Klub ist tatsächlich der "heißeste Platz in Berlin", wie es später im Text heißt. Verrucht, aber nicht verraucht. Sicherheitshalber werden die Aschenbecher vor Beginn der Musikdarbietungen eingesammelt, um die Stimmen der Künstler zu schonen.
Die fünfköpfige Kapelle unter der Leitung von Adam Benzwi klingt schmissig, wie eine Varitetéband der wilden Zwanziger klingen muß. Sie braucht weniger Rücksicht auf die Sänger nehmen, da heutzutage jedem ein Mikroport an der Stirne klebt. Das berühmte "Willkommen - Bienvenue - Welcome" stimmt der junge Conferencier Eric Rentmeister an, ein androgyner, aalglatter Glatzkopf. Vier Kit Kat Girls von sehr verschiedener Figur schwenken beherzt Körperteile, mehr hätten auf der winzigen Bühne auch gar nicht Platz.
Dem Bühnenbildner Momme Röhrbein gelingt es immerhin, in der Enge eine imposant qualmende Dampflokomotive auftreten zu lassen. Sonst behilft er sich meist mit bemalten Dekorationsvorhängen für schnelle Szenenwechel. Luxuriös ist die Ausstattung mit Kostümen und Hüten (von Fiona Bennett). Solide die Besetzung: Jung, naiv und gutmütig der amerikanische Schriftsteller Clifford (Guido Kleineidam) in Berlin, nicht unsympathisch sein Nazifreund Ernst (Torsten Stoll), eine recht komische Nummer das Matrosen verschlingende Fräulein Kost (Margarita Broich). Anna Loos-Liefers als Sally Bowles trägt einen feuerroten Bubikopf, singt tadellos, redet gern davon, dass sie was ganz Besonderes sei, bleibt aber ein karrieresüchtiges Durchschnittsmädel.
Der Regisseur und Choreograph Vincent Paterson versucht gar nicht erst, das Publikum durch Überraschungseffekte und spektakuläre Nummern von den Klappstühlen zu reißen. Ihn interessiert mehr das Schäbige und Verlogene der Varietéwelt. Die altjüngferliche Zimmervermieterin Fräulein Schneider und der jüdische Gemüsehändler Schultz (Peter Kock) sind bei ihm keine Neben-, sondern Hauptfiguren. Ihre am heraufziehenden Nationalsozialismus scheiternde Liebesgeschichte ist viel ergreifender als die oberflächliche Affäre zwischen Clifford und Sally. Denn vor allem Angela Winkler stattet ihr Fräulein Schneider mit zarten Tönen, mit Gesten der Verletzlichkeit und einer labilen Psychologie aus, die der Gattung Musical eigentlich fremd sind.
Dass die Geschichte von der doppelten Liebesvereitelung durch die Nazis dennoch seltsam hausbacken wirkt, ist wahrscheinlich der Rückübersetzung des Musicalstoffes aus dem Amerikanischen in unseren deutschen Kontext geschuldet. Außerdem hat sich die Wahrnehmung und Darstellung von Sexualität stark geändert, seit "Cabaret" in den Sechzigern erst die Bühne und dann die Leinwand eroberte. Selbst die Sado-Maso-Anspielungen in Patersons Choreographie provozieren heutzutage niemanden mehr. Er riskiert nicht, mit der Vulgarität oder dem schlechten Geschmack des realen Publikums zu spielen. Und deshalb verwandelt sich die "Bar jeder Vernunft" auch niemals in einen siedenden Kit Kat Klub, sondern bleibt freundliche Kulisse für die blitzsaubere Inszenierung.
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