Die Schauplätze des historischen Tages liegen ganz nah beieinander. In der Wilhelmstraße gibt es Informationstafeln zu allen verschwundenen Regierungsgebäuden und doch fällt es schwer zu glauben, was hier geschah. Denn die DDR-Oberen taten alles, um im ehemaligen Regierungsviertel ein Gedenken an die Naziherrschaft zu verhindern. Die Reste von Hitlers Reichskanzlei wurden schon bald nach dem Krieg restlos abgetragen, die ehemalige Regierungsstraße des Deutschen Reiches von Wilhelm- in Grotewohlstraße umbenannt. Kurz vor dem Mauerfall entstand ein harmlos anmutendes Wohnquartier aus Plattenbauten für DDR-Prominenz zu beiden Seiten der ehemaligen Regierungsstraße. Sie wurde in den Neunzigern in Wilhelmstraße rückbenannt und mit Infotafeln bestückt, seit gut einem Jahr ragt an der Stelle der verschwundenen Reichskanzlei weithin sichtbar eine Skulptur in der Himmel, die dem Gesichtsprofil des Hitler-Attentäters Georg Elser nachgebildet ist.
Auf rabiates Spurenverwischen folgte forciertes Erinnernwollen, gipfelnd im Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals unweit des zugeschütteten Führerbunkers, in dem sich Hitler 1945 das Leben nahm. Die schiere Größe des Mahnmals weist die Gegend als Schauplatz der Weltgeschichte aus. Präziser definiert ihn die Topographie des Terrors, das musealisierte Gestapo-Gelände, um das die Nazis das Regierungsviertel erweiterten. Auch dieses Areal an der Wilhelmstraße wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst planiert, vergessen, dann in den Achtzigern von Bürgern wiederentdeckt und schließlich in einen Gedenkort umgewandelt. Im vergangenen Jahr zählte die Topographie des Terrors fast eine Million Besucher, davon 60 Prozent aus dem Ausland.
Am heutigen Mittwoch kommt Kanzlerin Merkel dorthin, um eine bescheidene Sonderausstellung über die Ereignisse des Jahres 1933 zu eröffnen. In bewährter Manier haben die Historiker Fotomaterial, das zum großen Teil aus dem Progandandafundus der Nationalsozialisten stammt, so geschickt kombiniert und kommentiert, dass die Schritte in die Diktatur nachvollziehbar werden. 120 gesicherte Kurzbiografien von Menschen, die bereits im Jahr 1933 von den Nazis umgebracht wurden oder sich das Leben nahmen, bilden die Mitte der Ausstellung. Richtig zur Wirkung wird sie erst Ende März kommen, wenn sie stark erweitert draußen in den Kellerresten des Gestapozentrale gezeigt werden kann.
Dann ist im Sonderausstellungsraum Platz für das nächste Vorhaben, eine Ausstellung über die Presse im benachbarten Zeitungsviertel während der Diktatur. Es gibt viele solcher lokal verankerten Erinnerungsprojekte in diesem Jahr: Sie widmen sich den Gehörlosen, den Psychiatriepatienten oder der Situation farbiger Mitbürger in der NS-Zeit, der Gleichschaltung der Verkehrsbetriebe und der Kommunalverwaltung, den frühen NS-Folterstätten, der Inbesitznahme moderner Wohnsiedlungen durch die Nazis. Litfaßsäulen mit Porträts von 200 vertriebenen oder ermordeten Juden und Nazigegnern wandern durch die Stadt. Der Detailblick aufs das nationalsozialistische Berlin der Jahre 1933 bis 1938 wird aufgehellt durch die Erinnerung an den kulturellen Reichtum, der das Berlin der Weimarer Republik so anziehend machte.
„Zerstörte Vielfalt“ - unter dieser raffinierten Dachmarke bündelt das Berliner Stadtmarketing hunderte von Veranstaltungen zu einem Themenjahr, mit dem die Hauptstadt ihren weltweiten Ruf als Geschichtsmetropole festigt. Auffällig daran ist, dass die Nazivergangenheit nicht länger nur als schwere historische Bürde behandelt, sondern offensiv als Standortfaktor vermarktet wird. Erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit die Berliner Kulturverwaltung das Thema behandelt. Sie hat ganz einfach alle Kulturinstitutionen in der Stadt eingeladen, etwas zu dem Themenjahr beizusteuern, bewirbt hunderte von gemeldeten Veranstaltungen, ohne vorab strenge Qualitätsstandards definiert zu haben. Ist nicht Jahrzehnte lang hitzig gestritten worden, wie diese Gesellschaft denn nun angemessen mit der Erbe und der Erinnerung an die NS-Zeit umgehen soll? Plötzlich scheint das kein Thema mehr zu sein.
Selbst die Berufshistoriker sehen sich nicht länger als strenge Wächter über den korrekten Umgang mit der Vergangenheit. Unter seinem neuen Chef Alexander Koch hat das Deutsche Historische Museum erstmals die Tore weit für die lokalen Geschichtswerkstätten und Bezirksmuseen geöffnet: Statt einer eigenen Darstellung zum Jahr 1933 zeigt es eine „Portalausstellung“ mit Appetithappen, die auf die vielen Projekte in der Stadt verweisen. Das vom Bund finanzierte Museum, ein Projekt Helmut Kohls, stand immer misstrauisch beäugt und isoliert in der Berliner Museumslandschaft. Jetzt heißt es, dass man zusammenarbeite, sei doch selbstverständlich: Entspannung auf der ganzen Linie!
„Meinen Studenten muss ich nicht mehr erklären, dass Hitler ein großer Verbrecher war“, sagt der Historiker Michael Wildt, der gerade einen neuen Sammelband über Berlin im Nationalsozialismus herausgegeben hat. Aber es interessiere sie sehr, „wie eine Gesellschaft in eine rassistische Volksgemeinschaft umkippt“. Die Schuldgefühle vergangener Generationen stehen den jungen Leuten kaum mehr im Weg. Das kann durchaus von Vorteil sein, um den Zivilisationsbruch des Jahres 1933 noch besser zu verstehen.
VERANSTALTUNGEN Das Programm „Zerstörte Vielfalt“ dauert bis 10. November, die Portalausstellung im Deutschen Historischen Museum ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Eintritt frei. Informationen unter www.berlin.de/2013
DOKUMENTE Eine Quellensammlung zeichnet den Aufstieg der Nationalsozialisten bis 1933 nach: Wieland Giebel (Hg.): Das Braune Berlin. Adolf Hitlers „Kampf um die Reichshauptstadt“. Berlin Story Verlag, 368 Seiten, 24,95 Euro
SACHBUCH Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft des braunen Berlin durchleuchtet ein Sammelband von Historikern: Michael Wildt/Christoph Kreuzmüller (Hg.): Berlin 1933-1945, Siedler Verlag, 500 Seiten, 24,99 Euro
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 30. Januar 2013
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen