Von Elke Linda Buchholz Die einstmals größte Stadt der islamischen Welt schrumpft im
Berliner Museum für Islamische Kunst auf einen einzigen Raum zusammen. Gut ein
halbes Dutzend Vitrinen, dazu großflächige Stuckreliefs, historische
Grabungsfotografien und eine drei Meter hohe Landkarte des antiken Stadtareals
am Tigris, das muss reichen für "Samarra - Zentrum der Welt". Mehr
Platz ist nicht für die nördlich von Bagdad 836 als neue Residenz der Abbasidenkalifen
aus dem Boden gestampfte Metropole. "Oder wollen Sie die Umaiyaden rausschmeißen?"
fragt Kuratorin Julia Gonnella sarkastisch mit Blick auf die nebenan
präsentierten Elfenbeinschnitzereien der Vorgängerdynastie. Dringend braucht
der Rundgang durch die islamischen Kulturen vom 7. Jahrhundert bis 19.
Jahrhundert mehr Platz, zumal der Publikumsansturm sich in den letzten drei Jahren
verdoppelt hat. Viele der jährlich 700 000 Besucher sind Einheimische mit Migrationshintergrund,
die hier ihre eigenen kulturellen Wurzeln suchen, wie Museumsdirektor Stefan Weber
berichtet. Sein Museum steht aufgrund seiner traditionell kunsthistorischen
Präsentation der Bestände auch in der Kritik. Neue Vermittlungsformen und
Fragestellungen müssen erprobt werden. Auch dazu ist die Samarra-Ausstellung da.
Denn 2019 soll in dem dann sanierten Nordflügel des Pergamonmuseums die
dreifache Fläche für die Sammlungspräsentation zur Verfügung stehen.
Als der erste Direktor der Sammlung, Friedrich Sarre mit dem jungen Archäologen Ernst Herzfeld 1907 in das Tigris-Gebiet aufbrach, um das Terrain für eigene Grabungen zu sondieren, war die islamische Abteilung in Berlin gerade erst gegründet worden. Noch nie zuvor hatten Wissenschaftler die Frühphase des Islam mit der Schaufel erkundet, stets waren die Archäologen den spektakulären, älteren, vorislamischen Zivilisationen auf der Spur, wie in Babylon oder Olympia. In Samarra entdeckte das Berliner Forscherduo ein nahezu jungfräuliches Areal von über 50 Kilometern Länge, unter dessen Erde sich eine gewaltige Stadtanlage mit ausgedehnten Palästen, Moscheen, Polo-Spielfeldern und Reitanlagen verbarg. Unberührt lag das Gebiet seit dem Jahr 892, als die Abbasidenkalifen ihre Residenzstadt in Richtung Bagdad verließen. Nur etwa 60 Jahre lang hatte die von Kalif al-Mu´tasim, dem Sohn des legendären Harun al-Raschid, gegründete Stadt Bestand. Sie hieß "Surra Man Ra´a" - "Erfreut, wer sie sieht".
Scherben und Fragmente vermitteln einen Abglanz der
verschwenderischen Prachtentfaltung, mit der sich die Kalifen finanziell selbst
ruinierten. Knallbunte Millefioriglasplättchen brachten, in die Wände
eingelassen, die Räume zum Glitzern. Auf nur handtellergroßen Malereifragmenten
lächeln hoheitsvoll Gesichter, über deren Identität man nichts weiß.
Keramikbruchstücke dokumentieren den globalen Welthandel im Jahrhundert Karls
des Großen: Hunderte Scherben chinesischen Importporzellans wurden in Samarra
gefunden. Das feine weiße Fernost-Geschirr animierte die einheimischen
Kunsthandwerker zu Imitaten. Als sie auf die Idee kamen, ihre Keramik mit einem
leuchtenden Blauton zu bemalen, war die berühmte Blau-Weiß-Keramik erfunden,
die ihrerseits in China Schule machte. Die charakteristischste Erfindung der
Kunst von Samarra jedoch sind die Stuckreliefs. Auf historischen Grabungsfotos posieren
die Archäologen vor ganzen Wänden mit Stuckzier. Stückweise durfte Ernst
Herzfeld viele davon bei der Fundteilung abtransportieren, über 70 lagern bis
heute in Berlin. An den flächig im seriellen Maßstab produzierten Weinlaub-,
Schnörkel- und Schrägschnittmotiven konnten Herzfeld und Sarre aufs Schönste
kunsthistorische Stilkritik betreiben und zur Klassifizierung ihrer Funde
schreiten.
Aber interessiert das die verschiedenen Besuchergruppen
heute? Drei Jahre lang haben Wissenschaftler der Berliner TU dazu geforscht und
Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft in einem "Museums-Diwan" ins
Gespräch gebracht. Die Leute fragen nach Sinn und Funktion, nach dem religiösen
und gesellschaftlichen Kontext der angeschlagenen Tonschalen, ornamentalen
Schnitzpanele und feinzisilierten Bronzeaquamanile. Ein für die künftige
Neupräsentation des islamischen Museums vielversprechendes Resultat dieser
Feldforschungen ist in die Samarra-Ausstellung eingeflossen. Per Videostation
kommen echte Menschen zu Wort, ziehen Alltag und aktuelle Wirklichkeit in die
Präsentation ein. Ein multinationales Ehepaar erzählt auf seinem Berliner Sofa
von persönlichen Kindheits- und Reiseerlebnissen in Samarra, der Geburtstadt
des Mannes. Als junge Leute picknickten sie in den Ruinen der antiken Stadt und
erklommen schwindelnd die Spitze des berühmten Spiralminaretts der Großen
Moschee.
Das gewaltige Bauwerk schraubt sich wie eine Schnecke in den
Himmel, bildet bis heute die Ikone von Samarra und regte schon vor
Jahrhunderten europäische Künstler zu Visionen des Turmbaus zu Babel an. Heute
gehört es zum UNESCO-Welterbe. Wie gerne würde das interviewte Ehepaar noch
einmal dorthin zurückkehren! Doch der Irak ist vermintes Terrain. Auch die
Kuratorin war, wie sie gesteht, selbst nicht vor Ort. So bleibt Samarra ein
Sehnsuchtsort.
Um zu zeigen, wie es jetzt dort aussieht, wurde ein
Filmemacher aus Bagdad ins 120 Kilometer stromaufwärts am Tigrisufer gelegene
Samarra geschickt. Wie in einem Militärcamp sei die Atmosphäre, gibt er zu
Protokoll. Er filmte spielende Kinder in den Straßen, durfte aber die
Wiederaufbauarbeiten an der 1905 errichteten goldenen Kuppel des
Al-Askari-Schreins nicht dokumentieren. Das schiitische Pilgerziel, Grabstätte
des 10. und 11. Imams, war vor sechs Jahren von Aufständischen gesprengt worden.
Die militärischen Auseinandersetzungen haben auch die archäologischen Stätten in
Mitleidenschaft gezogen. Zu Saddam Husseins Zeiten war noch gegraben und
rekonstruiert worden. Bislang ist an eine Fortführung der von dem Berliner Ernst
Herzfeld vor 101 Jahren begonnenen Grabung nicht zu denken.
Bis 26. Mai 2013, kein Katalog.
Informationen zur Ausstellung
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 22. Januar 2013
Informationen zur Ausstellung
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 22. Januar 2013
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