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Dienstag, 11. Dezember 2012

Merzbau statt Pantheon: Der neue Lesesaal der Staatsbibliothek Unter den Linden


Der alte Lesesaal
(1914-1944)
Der Kuppellesesaal der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin war ein magischer Ort zwischen den Weltkriegen. „Brennpunkt der Ellipse, die mich hier bannt“, schrieb 1928 Walter Benjamin, einer der Stammkunden, der die Bibliothekare mit ellenlangen Listen fehlender Bücher auf Trab brachte. „Staatsbibliothek, Kaschemme / Resultatverließ, / Satzbordell, Maremme,/ Fieberparadies“, delirierte Gottfried Benn in einem Gedicht und rühmte das „wunderbare Flackern von einem Buch zum andern“.
Das Pantheon der Leser besaß eine größere Kuppel als der Berliner Dom, darunter waren die Leseplätze in Kreisen um eine leere Mitte angeordnet, jeder durch eine Glasschirmlampe bezeichnet. Denn durch die Rosettenfenster strömte nur dämmriges Licht ins Herzstück des neobarocken Bücherpalastes, mit dem Hofbaumeister Ernst von Ihne in zehnjähriger Bauzeit ein ganzes Straßenkarree an der preußischen Siegesallee füllte. 170 Meter lang, 107 Meter breit: Als der alte Lesesaal in Anwesenheit des Kaisers am 22. März 1914 eingeweiht wurde, war das Berliner Bibliotheksgebäude das größte der Welt.

Der neue Lesesaal
(2012)
Durch eine Luftmine im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, stand der Lesesaal noch bis 1975 als Ruine da. Nach dem Totalabriss was Platz für vier Magazintürme, mit denen die Bibliothekare jedoch nie richtig froh wurden. Sie mussten einem neuen Lesesaal des Stuttgarter Architekten HG Merz weichen, der gestern übergeben wurde und ab März 2013 mit Büchern bestückt und für das Publikum geöffnet sein soll.
Dauerbaustelle aber bleibt die Stabi noch länger, weil jetzt erst der Hauptflügel Unter den Linden instandgesetzt wird. So ist es noch nicht möglich, die imposante Raumfolge von der Allee durch den Brunnenhof und das Vestibül hinauf in den neuen Lesesaal abzuschreiten. Durch einen Hintereingang am schon sorgfältig  sanierten Nordflügel gelangen die Leser in ein grusliges Provisorium. Dort wo in ein paar Jahren ein Bibliotheksmuseum kostbarste Bücher und Handschriften präsentieren soll, sind vorerst Katalogrechercheplätze, Garderobe und Besucherschleusen in limonengrün gestrichenen Räumen untergebracht. Die Mitarbeiter, die hier Dienst tun sollen, haben schon gegen die Verbannung in diese giftgrüne Vorhölle protestiert. Die List des Architekten ist klar: Keinen Tag länger als nötig soll dieses Provisorium dauern. Freundlich gegenüber Mitarbeitern und Benutzern ist das aber nicht.

Dafür rollt HG Merz ihnen auf der Treppe zum neuen Lesesaal einen roten Teppich aus. Oder ist das nicht eher Orange? Nein, nach der Goetheschen Farbenlehre handelt es sich um „Gelbroth“ oder „Rothgelb“, eine warme, anheimelnde und zugleich das Denken stimulierende Tönung. Sie stimmt ein auf eine Überraschung: Der Riesenkubus des neuen Lesesaals wirkt viel gemütlicher als auf den Entwürfen und Fotos. Das „Gelbroth“ des Teppichs, das Orange der gepolsterten Stühle, das Rosenholzfurnier der auf drei Etagen rundum laufenden Regale dämpfen die eckige Strenge des Entwurfs. Die über die hölzerne „Bücherschale“ gestülpte Glaskiste verschwindet optisch fast ganz hinter einer weißen Wand- und Deckenbespannung, auf der sich bei Sonnenschein reizvolle Lichtreflexe abzeichnen.

Zusammen mit dem Stuttgarter Tragwerksplaner Werner Sobek hat HG Merz eine Leichtkonstruktion für das gläserne Dach und die Seitenwände entwickelt, für die es so keine Vorbilder gab – was mit zu Bauverzögerungen und Problemen bei der Genehmigung führte. Extrem präzise wurden Scheiben aus thermisch verformten Glas zu zwei durchsichtigen Membranen um eine dicke Lufthülle verbaut. Die optische Brechung des Lichts und die Spiegelungen auf den leicht welligen Glasflächen erzeugen einen psychedelisch anmutenden Verfremdungseffekt. Wie durch ein Aquarium blickt man auf die nüchternen Innenhöfe des Altbaus.

Um überhaupt aus dem Glaskubus zu schauen, muss man von der zentralen Lesesaalebene mit 90 Plätzen zu den 150 Forscherplätzen und Lesekabinen emporsteigen, die rundum an der Außenseite der hölzernen „Bücherschale“ eingerichtet wurden. Weitere 50 Plätze bietet der tiefer liegende Lesesaal für besonders wertvolle Drucke. Dort hat HG Merz klassizistischen Wandschmuck und Säulen des Altbaus mit Fingerspitzengefühl einbezogen. Ein großes Ölporträt des Gelehrten Alexander von Humboldt, dessen Nachlass die Staatsbibliothek besitzt, schmückt diesen Rara-Lesessaal. Humboldt blickt auf eine schwarz-weiß karierte Wand gegenüber, eines von mehreren leuchtenden Uhrenobjekten des Künstlers Tobias Rehberger, die sich von Minute zu Minute verändern.

Noch aus DDR-Zeiten stammt die Skulptur eines Arbeiters von Werner Stötzer im derzeit nicht zugänglichen Brunnenhof, angeregt durch Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Beim Kunst-am-Bau-Wettbewerb gewann Olaf Metzel den 1. Preis mit einer Arbeit, die „Noch Fragen?“ heißt. Wer im schicken neuen Lesesaal über Büchern brütend die Augen zum Himmel richtet, sieht einen auf dem Kopf stehenden Struwelpeter, zerknüllte Schlagzeilen zu wissenschaftlichen Plagiaten oder die Schlagzeile „Schläfst Du Dich hoch?“ Olaf Metzel hat Zeitungs- und Zeitschriftenseiten auf Alublech übertragen und zu einem unter der Lesesaaldecke schwebenden Knäuel zusammengebogen. Ein ironischer Fingerzeig auf die Vergänglichkeit und oft geringe Wirkung geistiger Arbeit. Die freche Collage hat was von Schwitters und so gibt es auch schon einen Spitznamen für den neuen Lesesaal: Merzbau. 


SANIERUNGSFALL STAATSBIBLIOTHEK


MASTERPLAN Die Staatsbibliotheken in Ost- und West-Berlin wurden 1992 zur größten wissenschaftlichen Universalbibliothek in Deutschland fusioniert. Der Altbau Unter den Linden ist als historische Forschungsbibliothek für die Literatur bis 1900 vorgesehen, der Scharounbau am Kulturforum für die neueren Bestände.
BAUKOSTEN Bereits seit 1992 wird Unter den Linden gebaut. Neben dem Lesesaal für rund 80 Millionen Euro umfasste der 2002 erteilte Planungsauftrag an HG Merz die Sanierung und Modernisierung des historischen Bibliothekskomplexes bei laufendem Betrieb. 406 Millionen insgesamt stellt der Bund für die größte Kulturbaustelle in der Hauptstadt zur Verfügung, erst 2016 sollen alle Arbeiten abgeschlossen sein.
KULTURFORUM Weitere 96 Millionen Euro fließen parallel in die Asbestsanierung und Ertüchtigung des Scharounbaus der Staatsbibliothek, die bis 2015 dauert. 

Erstdruck: Stuttgarter Zeitung vom 11. Dezember 2012

1 Kommentar:

  1. Schöner Text! Also Eröffnung im März 2013 ... Solange die Grimm-Bibliothek der HU so überfüllt ist, bleibt derzeit nur die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz.

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