Der alte Lesesaal (1914-1944) |
Der
Kuppellesesaal der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin war ein magischer Ort
zwischen den Weltkriegen. „Brennpunkt der Ellipse, die mich hier bannt“,
schrieb 1928 Walter Benjamin, einer der Stammkunden, der die Bibliothekare mit
ellenlangen Listen fehlender Bücher auf Trab brachte. „Staatsbibliothek,
Kaschemme / Resultatverließ, / Satzbordell, Maremme,/ Fieberparadies“, delirierte
Gottfried Benn in einem Gedicht und rühmte das „wunderbare Flackern von einem
Buch zum andern“.
Das
Pantheon der Leser besaß eine größere Kuppel als der Berliner Dom, darunter
waren die Leseplätze in Kreisen um eine leere Mitte angeordnet, jeder durch
eine Glasschirmlampe bezeichnet. Denn durch die Rosettenfenster strömte nur
dämmriges Licht ins Herzstück des neobarocken Bücherpalastes, mit dem Hofbaumeister Ernst von Ihne in zehnjähriger Bauzeit ein ganzes Straßenkarree
an der preußischen Siegesallee füllte. 170 Meter lang, 107 Meter breit: Als der
alte Lesesaal in Anwesenheit des Kaisers am 22. März 1914 eingeweiht wurde, war
das Berliner Bibliotheksgebäude das größte der Welt.
Der neue Lesesaal (2012) |
Durch
eine Luftmine im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, stand der Lesesaal noch
bis 1975 als Ruine da. Nach dem Totalabriss was Platz für vier Magazintürme,
mit denen die Bibliothekare jedoch nie richtig froh wurden. Sie mussten einem
neuen Lesesaal des Stuttgarter Architekten HG Merz weichen, der gestern
übergeben wurde und ab März 2013 mit Büchern bestückt und für das Publikum
geöffnet sein soll.
Dauerbaustelle
aber bleibt die Stabi noch länger, weil jetzt erst der Hauptflügel Unter den
Linden instandgesetzt wird. So ist es noch nicht möglich, die imposante
Raumfolge von der Allee durch den Brunnenhof und das Vestibül hinauf in den
neuen Lesesaal abzuschreiten. Durch einen Hintereingang am schon sorgfältig sanierten Nordflügel gelangen die Leser
in ein grusliges Provisorium. Dort wo in ein paar Jahren ein Bibliotheksmuseum kostbarste
Bücher und Handschriften präsentieren soll, sind vorerst
Katalogrechercheplätze, Garderobe und Besucherschleusen in limonengrün
gestrichenen Räumen untergebracht. Die Mitarbeiter, die hier Dienst tun sollen,
haben schon gegen die Verbannung in diese giftgrüne Vorhölle protestiert. Die
List des Architekten ist klar: Keinen Tag länger als nötig soll dieses
Provisorium dauern. Freundlich gegenüber Mitarbeitern und Benutzern ist das
aber nicht.
Dafür
rollt HG Merz ihnen auf der Treppe zum neuen Lesesaal einen roten Teppich aus.
Oder ist das nicht eher Orange? Nein, nach der Goetheschen Farbenlehre handelt
es sich um „Gelbroth“ oder „Rothgelb“, eine warme, anheimelnde und zugleich das
Denken stimulierende Tönung. Sie stimmt ein auf eine Überraschung: Der Riesenkubus
des neuen Lesesaals wirkt viel gemütlicher als auf den Entwürfen und Fotos. Das
„Gelbroth“ des Teppichs, das Orange der gepolsterten Stühle, das
Rosenholzfurnier der auf drei Etagen rundum laufenden Regale dämpfen die eckige
Strenge des Entwurfs. Die über die hölzerne „Bücherschale“ gestülpte Glaskiste
verschwindet optisch fast ganz hinter einer weißen Wand- und Deckenbespannung,
auf der sich bei Sonnenschein reizvolle Lichtreflexe abzeichnen.
Zusammen
mit dem Stuttgarter Tragwerksplaner Werner Sobek hat HG Merz eine Leichtkonstruktion
für das gläserne Dach und die Seitenwände entwickelt, für die es so keine
Vorbilder gab – was mit zu Bauverzögerungen und Problemen bei der Genehmigung
führte. Extrem präzise wurden Scheiben aus thermisch verformten Glas zu zwei
durchsichtigen Membranen um eine dicke Lufthülle verbaut. Die optische Brechung
des Lichts und die Spiegelungen auf den leicht welligen Glasflächen erzeugen
einen psychedelisch anmutenden Verfremdungseffekt. Wie durch ein Aquarium
blickt man auf die nüchternen Innenhöfe des Altbaus.
Um überhaupt
aus dem Glaskubus zu schauen, muss man von der zentralen Lesesaalebene mit 90
Plätzen zu den 150 Forscherplätzen und Lesekabinen emporsteigen, die rundum an
der Außenseite der hölzernen „Bücherschale“ eingerichtet wurden. Weitere 50
Plätze bietet der tiefer liegende Lesesaal für besonders wertvolle Drucke. Dort
hat HG Merz klassizistischen Wandschmuck und Säulen des Altbaus mit
Fingerspitzengefühl einbezogen. Ein großes Ölporträt des Gelehrten Alexander
von Humboldt, dessen Nachlass die Staatsbibliothek besitzt, schmückt diesen
Rara-Lesessaal. Humboldt blickt auf eine schwarz-weiß karierte Wand gegenüber,
eines von mehreren leuchtenden Uhrenobjekten des Künstlers Tobias Rehberger,
die sich von Minute zu Minute verändern.
Noch
aus DDR-Zeiten stammt die Skulptur eines Arbeiters von Werner Stötzer im
derzeit nicht zugänglichen Brunnenhof, angeregt durch Brechts Gedicht „Fragen
eines lesenden Arbeiters“. Beim Kunst-am-Bau-Wettbewerb gewann Olaf Metzel den
1. Preis mit einer Arbeit, die „Noch Fragen?“ heißt. Wer im schicken neuen
Lesesaal über Büchern brütend die Augen zum Himmel richtet, sieht einen auf dem
Kopf stehenden Struwelpeter, zerknüllte Schlagzeilen zu wissenschaftlichen
Plagiaten oder die Schlagzeile „Schläfst Du Dich hoch?“ Olaf Metzel hat
Zeitungs- und Zeitschriftenseiten auf Alublech übertragen und zu einem unter
der Lesesaaldecke schwebenden Knäuel zusammengebogen. Ein ironischer Fingerzeig
auf die Vergänglichkeit und oft geringe Wirkung geistiger Arbeit. Die freche
Collage hat was von Schwitters und so gibt es auch schon einen Spitznamen für
den neuen Lesesaal: Merzbau.
SANIERUNGSFALL
STAATSBIBLIOTHEK
MASTERPLAN
Die Staatsbibliotheken in Ost- und West-Berlin wurden 1992 zur größten
wissenschaftlichen Universalbibliothek in Deutschland fusioniert. Der Altbau
Unter den Linden ist als historische Forschungsbibliothek für die Literatur bis
1900 vorgesehen, der Scharounbau am Kulturforum für die neueren Bestände.
BAUKOSTEN
Bereits seit 1992 wird Unter den Linden gebaut. Neben dem Lesesaal für rund 80
Millionen Euro umfasste der 2002 erteilte Planungsauftrag an HG Merz die
Sanierung und Modernisierung des historischen Bibliothekskomplexes bei
laufendem Betrieb. 406 Millionen insgesamt stellt der Bund für die größte
Kulturbaustelle in der Hauptstadt zur Verfügung, erst 2016 sollen alle Arbeiten
abgeschlossen sein.
KULTURFORUM
Weitere 96 Millionen Euro fließen parallel in die Asbestsanierung und
Ertüchtigung des Scharounbaus der Staatsbibliothek, die bis 2015 dauert.
Erstdruck: Stuttgarter Zeitung vom 11. Dezember 2012
Schöner Text! Also Eröffnung im März 2013 ... Solange die Grimm-Bibliothek der HU so überfüllt ist, bleibt derzeit nur die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz.
AntwortenLöschen