Es war einmal ein
gefürchteter Freibeuter des deutschen Theaters, der überwarf sich mit seiner
ruhmreichen Mannschaft, die so manches endlose Seegefecht für ihn entschieden
hatte. Im Unfrieden gingen die besten Kämpfer von Bord, seither herrschte ein
Kommen und Gehen auf dem Schiff. Niemand verstand mehr den Kurs, den der ewige
Kapitän Castorf steuerte, und es schien nur eine Frage der Zeit, bis ihn ein
Sturm vom Steuerplatz des matt dahin dümpelnden Seglers fegte.
Seine Seehelden heuerten auf
anderen Schiffen an, einige übten sich dort im Steuern und Navigieren, mit
Erfolg. Nach vier, fünf Jahren packte sie die Sehnsucht, es noch einmal mit
ihrem alten Käptn zu versuchen. Sie kehrten als Steuerleute in seine verjüngte Mannschaft zurück und siehe, plötzlich
blähten sich auf dem lahmen Kahn wieder prächtig die Segel.
In aller Kürze ist das die jüngste
Geschichte der Berliner Volksbühne unter ihrem seit 20 Jahren amtierenden
Intendanten Frank Castorf. Vor einem Jahr bescherte ihr die ehemalige Stammkraft Herbert Fritsch einen
Riesenerfolg mit dem schrillen Schwank „Die s(p)anische Fliege“, eingeladen zum
diesjährigen Theatertreffen. Nun ist auch der vor vier Jahren vom Volksbühnenberserker zum
„Tatort“-Kommissar mutierte Martin Wuttke wieder an Deck, als Schauspieler und
Regisseur. Ermutigt durch Fritschs Erfolg bei Publikum und Kritik setzt die
Volksbühne voll auf Komödie: Zum ersten Mal seit 20 Jahren kommt wieder Molière
auf den Spielplan.
„Zum Totlachen“ steht
riesengroß auf dem rot-weiß gestreiften Vorhang einer Jahrmarktbude, die weit
in den Zuschauerraum vorragt. Dass der Akzent mehr auf dem Tod liegt als auf
dem Lachen, macht ein Gerippe mit Stundenglas im Giebelfeld des Theaterchens
klar. Ein vierschrötiger Ansager (Hendrik Arnst) brüllt wie auf dem Rummelplatz
ins Publikum: „Le malade imaginaire!“ Dann hebt sich der Vorhang und gibt den
in die nicht sehr tiefe Guckkastenbühne frei.
Links sitzt die Hausangestellte Toinette (Margarita Breitkreiz) und spricht schwer verständlich einen Text von Artaud vor sich hin: „Du musst sterben!“ Sie trägt Dienstmagdkleidung und ein weißes Häubchen, passend zu dem schwarz-weiß Interieur, das eine bürgerliche Wohnstube der Molière-Zeit vorstellt. In einem Sessel lagert eine leichenblasse Gestalt mit leblos herabhängendem Arm wie der tote Marat in seiner Badewanne – nicht die einzige Anspielung auf Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts an diesem Abend.
Links sitzt die Hausangestellte Toinette (Margarita Breitkreiz) und spricht schwer verständlich einen Text von Artaud vor sich hin: „Du musst sterben!“ Sie trägt Dienstmagdkleidung und ein weißes Häubchen, passend zu dem schwarz-weiß Interieur, das eine bürgerliche Wohnstube der Molière-Zeit vorstellt. In einem Sessel lagert eine leichenblasse Gestalt mit leblos herabhängendem Arm wie der tote Marat in seiner Badewanne – nicht die einzige Anspielung auf Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts an diesem Abend.
Aus der Totenstarre erwacht
der hypochondrische Argan hüstelnd zu neuem Leben. Ein klappriger Greis, der,
in Fahrt gekommen, zum stockschwingenden Springteufel wird. Geifernd,
schnarrend und bellend könnte er auch die gealterte Hitlerfigur sein, die Martin
Wuttke seit 1995 in seiner Paraderolle als Arturo Ui im Berliner Ensemble
spielt. Jaulend geht er auf Französisch seine Arztrechnungen durch. Das muss
aufhören, deshalb soll sein Töchterchen Angelique einen Arzt heiraten, der dann
immer um ihn ist.
Angelique (Lilith Stangenberg) klimpert mit ihren riesigen angeklebten Augenwimpern
wie eine Puppe. Sie ist Fleisch von Argans Fleisch, eine genauso virtuose
Schauspielerin, die im richtigen Moment ohnmächtig hinsinken und sich mausetot
stellen kann. So selbstsüchtig wie der Vater verfolgt sie ihr Interesse: “Ich
brauche einen Mann, der sich nur um mich kümmert, denn ich bin ja zu nichts in
der Lage.”
Eine Gesellschaft von Egoisten bevölkert die
enge Bühne, hier gibt es kein Gut und Böse, nur rücksichtslose
Selbstbezogenheit. Die geldgierige Schwiegermutter Beline (Brigitte Cuvelier)
sieht hinreißend elegant aus unter ihren rotgoldenen Locken, dabei muss sie Mitleid erregend in einem
altertümlichen Rollstuhl über die Bühne geschoben werden. Man hält es für einen
schlauen Regieeinfall – und bemerkt erst beim Schlussapplaus den Gipsfuß der
Schauspielerin unterm Rockzipfel. Die beiden Bewerber um Angelique – der
verkopfte Arztsohn Thomas (Maximilian Brauer) und der dunkelhäutige Bohemien
Cleant (Abdoul Kader Traroré) – versuchen durch artistische Kunststückchen ans
Ziel zu kommen, ohne sich damit als besonders gutherzig zu profilieren. Mit dem
französischen Tänzer Jean Chaize als Arzt und dem bewährten kanadischen
Volksbühnenmusikus Sir Henry im Hintergrund ist die multikulturelle,
vielsprachige und vielfarbige Besetzung komplett: Aus dem Migrationshintergrund
der meisten Mitspieler ergibt sich ganz zwanglos, dass in dieser Aufführung
immer mal wieder die Sprache und der Akzent wechseln.
Martin Wuttke mit seiner Lust an grotesker
Hässlichkeit und virtuosen Slapsticks ist natürlich der Star des Abends, doch
er ist auch ein sensibler Regisseur, der seine Mitspieler richtig gut neben
sich aussehen lässt. Eine sorgfältig choreografierte Ensembleszene mit
kreisenden Suppentellern und Schöpflöffeln gehört zu den schönsten des Abends,
in einer anderen wird Argan mit einem riesigen Klistier von hinten traktiert,
bis ihm die Körpersäfte aus dem Mund und den Ohren spritzen. Ganz lustig, doch so
richtig zum Schenkelklopfen ist das alles nicht.
Der Abend ist wie auf Schwarz gemalt, hinter
den Späßen scheint nichts auf, was den Figuren und den Zuschauern irgendeine
Orientierung geben könnte. Es lastet ein intellektueller Überbau auf der
Inszenierung, der sich von Artaud und der Psychoanalyse herschreibt, aber nicht
durchsichtig wird. Wuttke spannt die Komödie des 17. Jahrhunderts mit dem
“Theater der Grausamkeit” des 20. Jahrhunderts zusammen, das ist momentweise
ganz erfrischend, doch insgesamt wirkt es unentschieden. Als habe Wuttke es
Molière und Artaud gleichermaßen recht nachen wollen, doch die Rechnung geht
nicht auf.
Er nimmt sich die Freiheit, ganz langen Ende
der Inszenierung vom Guckkastentheater auf Live-Videoübertragung mit
Nahaufnahmen der Gesichter umzuschalten. Die Schauspieler und Kameraleute
machen das virtuos, warum also nicht? Aber dann ist fast abrupt Schluss, kaum
zwei Stunden sind vergangen und zurück bleibt das Gefühl: Hoppla, ist jetzt
Pause, müsste da nicht noch was kommen?
Vielleicht folgt die Fortsetzung am nächsten
Freitag, dann soll schon die nächste Wuttke-Premiere an der Volksbühne über die
Bühne gehen. In „Der Geizige“ von
Molière wird er spielen und Frank Castorf Regie führen. Dass dem Gespann damit ein
Coup gelingt, ist keineswegs ausgemacht. Auch in den besten Jahren der
Volksbühne lagen Volltreffer und Fehlschläge ganz dicht beieinander.
ERSTDRUCK: Stuttgarter Zeitung vom 4. Juni 2012
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