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Mittwoch, 6. Juni 2012

Die große Weltausstellung auf dem Tempelhofer Feld (2)


Unsichtbar brüten Feldlerchen im hohen Gras. Die Wiese wird nicht gemäht und soll nicht betreten werden. Drumherum im weiten Rund des still gelegten Tempelhofer Flughafens dürfen sich Spaziergänger vergnügen: Drachen und Modellflugzeuge steigen von den einstigen Start- und Landebahnen in den Himmel, Skater und Radfahrer flitzen über die Betonpisten, es wird geflirtet und gegrillt, Fußball gespielt und in selbst gezimmerten Holzkisten gegärtnert. Eine grandiose  Open-Air-Bühne, gerade groß genug für die Abschiedsvorstellung von  Matthias Lilienthal, der sich nach acht erfolgreichen Jahren aus der Leitung des Berliner Theaterkombinats „Hebbel am Ufer“ (HAU) zurückzieht.
Mit wenig Geld und ohne eigenes Ensemble hat er seine drei Spielstätten über Berlin hinaus berühmt gemacht, dank seiner unermüdlichen Entdeckerfreude in der freien Szene. Immer wieder ermöglichte er Projekte, bei denen Wohnungen zu Spielstätten umfunktioniert oder das Publikum durch die Stadt geschleust wurde. Nun präsentiert Lilienthal gemeinsam mit der Architektenvereinigung „raumlabor“ in Tempelhof „Die große Weltausstellung“.

Damit kommt er dem Berliner Senat zuvor, der dort 2017 eine Internationale Gartenausstellung und 2020 eine Bauausstellung plant. Die künstlerische Intervention soll die Diskussion über den einzigartigen Freiraum mitten in der Millionenstadt beleben. 15 Künstler oder Künstlergruppen wurden eingeladen, Ausstellungspavillons zu gestalten, rot-weiß gestreift wie die vom Flugbetrieb übrig gebliebenen Baracken und Poller. Motto: „The world is not fair.“
Das Künstlerkollektiv „andcompany&Co.“ hat seine buntscheckige Spaßbaracke „World Freud Center“ getauft: ein Schauplatz kabarettistischer Darbietungen zu Grundbegriffen der Psychoanalyse wie Trieb und Tabu. Debattiert wird während der Weltausstellung in einem Amphitheater, das die Stuttgarter Architekten Peter Weigand und Lukasz Lendzinski aus recycelten Baustoffen zusammengeschraubt haben. Ihr „fluide Architektur“ entsteht kurzfristig und lässt sich problemlos wieder entsorgen. Es gibt auch eine provisorische Siedlung für Wohnunglose zu besichtigen (von Tamer Yigit und Branka Prlic) und ein schrebergartenähnliches „Institut für imaginäre Inseln“ (von Lukas Feireiss).
In einem Minikino zeigt Harun Farocki, wie sich die Darstellung von Bäumen in Computeranimationen in den letzten 30 Jahren veränderte: von der primitiven Strichzeichnung bis zur hyperrealen 3-D-Konstruktion, was die Frage aufwirft, in welcher Bilderwelt wir in wenigen Jahren  leben werden. Die südafrikanische Performerin Tracey Rose hat einen altmodischen Riesenfernseher in der Landschaft gestellt und spielt darin leibhaftig ihre persönliche Seifenoper.
Über dem Bühnenverschlag des japanischen Theatermachers Toshiki Okada ist ein provisorisches Schutzdach aufgeständert wie über dem explodierten Reaktorblock eines Atomkraftwerks. Die Schauspieler Taichi Yamagata und Tomomitsu Adachi führen ein kleines Fukushima-Lehrstück auf: Szenen aus einem fiktiven 3-D-Film über den Unglücksreaktor, mit denen ein ehrgeiziger Regisseur Filmpreise abstauben will.
Der libanesische Regisseur und Schauspieler Rabih Mroué schickt die Besucher in einen langen Wellblechverschlag und konfrontiert sie dort mit Großfotos von einem Söldner des Assad-Regimes. Der Mann  bemerkt, dass er beobachtet wird, nimmt den Betrachter ins Visier und legt auf ihn an. Die Serienbilder stammen von einem 18 Sekunden langen Youtube-Video, das vermutlich ein getöteter syrischer Demonstrant aufgenommen hat. In der Rauminstallation wird die tödliche Bedrohung wie in Zeitlupe körperlich nacherlebbar. Auf der Rückwand der Großfotos liest man Tipps für syrische Amateurfilmer aus dem Internet. Sie sollen sicherheitshalber nie ein Stativ benutzen und: „Töten darf gefilmt werden, wenn es real ist.“ Der Kampf um Freiheit ist auch ein Krieg der Bilder.

„Die große Weltausstellung“ ist bis 24. Juni zu besichtigen, die Pavillons sind von Donnerstag bis Sonntag immer nachmittags bis 22 Uhr geöffnet, dann finden auch Aufführungen und Dislkussionen statt. Es empfiehlt sich, das Gelände mit dem Fahrrad zu besuchen. Nähere Infos unter www.hebbel-am-ufer.de und www.tempelhofer-freiheit.de

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 6. Juni 2012

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