Unsichtbar
brüten Feldlerchen im hohen Gras. Die Wiese wird nicht gemäht und soll nicht
betreten werden. Drumherum im weiten Rund des still gelegten Tempelhofer
Flughafens dürfen sich Spaziergänger vergnügen: Drachen und Modellflugzeuge
steigen von den einstigen Start- und Landebahnen in den Himmel, Skater und
Radfahrer flitzen über die Betonpisten, es wird geflirtet und gegrillt, Fußball
gespielt und in selbst gezimmerten Holzkisten gegärtnert. Eine grandiose Open-Air-Bühne, gerade groß genug für die
Abschiedsvorstellung von Matthias
Lilienthal, der sich nach acht erfolgreichen Jahren aus der Leitung des
Berliner Theaterkombinats „Hebbel am Ufer“ (HAU) zurückzieht.
Mit
wenig Geld und ohne eigenes Ensemble hat er seine drei Spielstätten über Berlin
hinaus berühmt gemacht, dank seiner unermüdlichen Entdeckerfreude in der freien
Szene. Immer wieder ermöglichte er Projekte, bei denen Wohnungen zu
Spielstätten umfunktioniert oder das Publikum durch die Stadt geschleust wurde.
Nun präsentiert Lilienthal gemeinsam mit der Architektenvereinigung „raumlabor“
in Tempelhof „Die große Weltausstellung“.
Damit
kommt er dem Berliner Senat zuvor, der dort 2017 eine Internationale
Gartenausstellung und 2020 eine Bauausstellung plant. Die künstlerische
Intervention soll die Diskussion über den einzigartigen Freiraum mitten in der
Millionenstadt beleben. 15 Künstler oder Künstlergruppen wurden eingeladen,
Ausstellungspavillons zu gestalten, rot-weiß gestreift wie die vom Flugbetrieb
übrig gebliebenen Baracken und Poller. Motto: „The world is not fair.“
Das
Künstlerkollektiv „andcompany&Co.“ hat seine buntscheckige Spaßbaracke
„World Freud Center“ getauft: ein Schauplatz kabarettistischer Darbietungen zu
Grundbegriffen der Psychoanalyse wie Trieb und Tabu. Debattiert wird während
der Weltausstellung in einem Amphitheater, das die Stuttgarter Architekten
Peter Weigand und Lukasz Lendzinski aus recycelten Baustoffen
zusammengeschraubt haben. Ihr „fluide Architektur“ entsteht kurzfristig und
lässt sich problemlos wieder entsorgen. Es gibt auch eine
provisorische Siedlung für Wohnunglose zu besichtigen (von Tamer Yigit und
Branka Prlic) und ein schrebergartenähnliches „Institut für imaginäre Inseln“
(von Lukas Feireiss).
In
einem Minikino zeigt Harun Farocki, wie sich die Darstellung von Bäumen in
Computeranimationen in den letzten 30 Jahren veränderte: von der primitiven
Strichzeichnung bis zur hyperrealen 3-D-Konstruktion, was die Frage aufwirft,
in welcher Bilderwelt wir in wenigen Jahren leben werden. Die südafrikanische Performerin Tracey Rose
hat einen altmodischen Riesenfernseher in der Landschaft gestellt und spielt
darin leibhaftig ihre persönliche Seifenoper.
Über dem Bühnenverschlag des japanischen Theatermachers
Toshiki Okada ist ein provisorisches Schutzdach aufgeständert wie über dem
explodierten Reaktorblock eines Atomkraftwerks. Die Schauspieler Taichi
Yamagata und Tomomitsu Adachi führen ein kleines Fukushima-Lehrstück auf:
Szenen aus einem fiktiven 3-D-Film über den Unglücksreaktor, mit denen ein
ehrgeiziger Regisseur Filmpreise abstauben will.
Der
libanesische Regisseur und Schauspieler Rabih Mroué schickt die Besucher in
einen langen Wellblechverschlag und konfrontiert sie dort mit Großfotos von
einem Söldner des Assad-Regimes. Der Mann bemerkt, dass er beobachtet wird, nimmt den Betrachter ins
Visier und legt auf ihn an. Die Serienbilder stammen von einem 18 Sekunden
langen Youtube-Video, das vermutlich ein getöteter syrischer Demonstrant
aufgenommen hat. In der Rauminstallation wird die tödliche Bedrohung wie in
Zeitlupe körperlich nacherlebbar. Auf der Rückwand der Großfotos liest man
Tipps für syrische Amateurfilmer aus dem Internet. Sie sollen sicherheitshalber
nie ein Stativ benutzen und: „Töten darf gefilmt werden, wenn es real ist.“ Der
Kampf um Freiheit ist auch ein Krieg der Bilder.
„Die
große Weltausstellung“ ist bis 24. Juni zu besichtigen, die Pavillons sind von
Donnerstag bis Sonntag immer nachmittags bis 22 Uhr geöffnet, dann finden auch
Aufführungen und Dislkussionen statt. Es empfiehlt sich, das Gelände mit dem
Fahrrad zu besuchen. Nähere Infos unter www.hebbel-am-ufer.de und
www.tempelhofer-freiheit.de
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 6. Juni 2012
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