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Freitag, 9. September 2011

Lieber Traumfänger als Terrorist

Im Literaturhaus Berlin hat der Schauspieler Christopf Wackernagel am Mittwochabend sein Buch "Es" vorgestellt, Michael Bienert war dabei und hat den schweren Brocken angelesen, hier sein Bericht aus der STUTTGARTER ZEITUNG von heute:

Neulich war im Privatfernsehen zu bestaunen, wie Franz Beckenbauer vor einem Fußballspiel werbewirksam mit einem Exemplar der neuen Chronik des FC Bayern beschenkt wurde, einem monströsen Hochglanzband in Mahagonioptik, neben dem selbst der Kaiser wie ein Liliputaner wirkte. Wem 2999 Euro für die interessante Erfahrung zu viel sind, als Leser zum Zwerg gemacht zu werden, kann sich für nur 248 Euro auch das Opus magnum des Schauspielers, Ex-RAF-Terroristen und Schriftstellers Christof Wackernagel liefern lassen: Mit viereinhalb Kilo ist der fünf Zentimeter dicke Folioband schwer genug, um sich zu verheben. Schon einen bequemen Ort und eine Körperposition zu finden, um darin zu blättern, stellt eine Herausforderung für den Leser dar.
„Es”, so der Buchtitel, tritt als das erste Werk einer neuen Gattung auf, die der Autor „Traumtrilogie” getauft hat. Wackernagel zeichnet nicht nur für den Inhalt, sondern auch für den Satzspiegel der 604 DIN-A3-Seiten verantwortlich: Drei gleich breite Spalten auf jeder Seite bilden ein Text-Triptychon, das kreuz und quer gelesen werden darf. Das erinnert an Arno Schmidts „Zettels Traum”, doch gibt es bei Wackernagel keine durchlaufende Handlung und kein flatterndes Satzbild. Bei der Buchpremiere im Berliner Literaturhaus lasen der Autor, seine Schwester Sabine und deren Tochter Katharina Wackernagel, alle aus der nämlichen Stuttgarter Schauspielerdynastie stammend, mit verteilten Rollen aus dem Werk, korrespondierend zur Dreifaltigkeit des Textes.
„Wo Es war, soll Ich werden” - dieser Aufforderung Sigmund Freuds folgt Wackernagel mit imponierender Radikalität. Die linke Textspalte enthält Traumprotokolle aus 15 Jahren, damit angefangen hat Wackernagel 1978 in der zehnjährigen Haft, die er nach einer Schießerei mit einem Polizisten absitzen musste. Die rechte Textspalte enthält durch die Nachtträume initiierte literarische Fantasien, der Autor nennt sie „Tagträume” - eine Art Zeitroman, in dem Udo Lindenberg als Filialleiter einer Volksbank, Helmut Kohl als Streifenpolizist oder der Philosoph Max Horkheimer als Autolobbyist auftritt. In der Mittelspalte, so Wackernagel auf Nachfrage, habe er nach einem Gleichgewicht zwischen nächtlicher und willentlicher Traumproduktion gesucht.
Dabei sind seine sprachlich schillerndsten Textgebilde entstanden, die er irritierenderweise „Halluzinationen” nennt: „Knirschende Sehnsüchte grüßen verschämt aus exakt soundsoviel Schächtelchen ohne Boden, aber mit Erinnerung und Wiederholungsgarantie.” Anders als den großen Lehrmeister Freud interessiert Wackernagel die Deutung der Träume wenig. Für ihn sind sie eigenständige Kunstwerke und ein „Mittel fiktiver Geschichtsschreibung”. Er habe nach einer Form gesucht, erklärt der heute Sechzigjährige, das Lebensgefühl seiner Generation auszudrücken. Gleich im ersten Nachttraum sucht Fidel Castro den Erzähler heim und redet auf ihn ein, doch der Träumende versteht nur Blabla und erschrickt, als er bemerkt, dass sein Held keinen Bart hat. Die absurden Verschlingungen des Politischen mit dem Privaten, von linker Gesellschaftskritik mit Gewaltfantasien, von entfesselter Sexualität und Beziehungsnot bilden sich in den Texten wie in einem Kaleidoskop ab, das der Autor immer wieder aufschüttelt - ohne Rechtfertigung, Beschwichtigung, zerknirschte Selbstkritik.
Dem Terrorismus hat Wackernagel schon vor Jahren abgeschworen, sich mit dem von ihm angeschossenen Polizisten ausgesöhnt, danach hat er als Schauspieler sogar Polizisten im Fernsehen verkörpert: ein Fall von perfekter Resozialisierung. „Es” hat er denen gewidmet, „die es nicht überlebt haben”. Die Utopie völlig aufgegeben hat der Autor aber nicht: Ganz am Ende des Buches lässt er eine Figur von einer Welt träumen, in der „keiner mehr Macht hat oder will”.
Niemand wird „Es” in einem Zug lesen können, es ist ein auf Langzeitwirkung berechneter Solitär. Wer den Autor nicht gleich als „Terroristen der Worte”, sondern als humorvollen Novellisten kennenlernen will, wird dieser Tage wohl eher zu dem 2002 erschienenen Bändchen „Ghadafi lässt bitten” greifen. Darin erzählt Wackernagel von einer Reise nach Tripolis und Sirte auf Einladung des alten Regimes, in ein bizarres Land, beherrscht von den Träumereien eines despotischen Revolutionsführers. Ob der neue Traum von Demokratie dort wirklich eine Chance hat, bleibt nach der Lektüre eine offene Frage.
Christof Wackernagel: „Es”. Traumtrilogie. Verlag zu Klampen, 2011. 604 Seiten, 248 Euro.
ders.: Gadhafi lässt bitten. Verlag zu Klampen, 2002. 144 Seiten, 14 Euro.

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