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Samstag, 23. Dezember 2017

Benjamin und Brecht - Denken in Extremen

Noch bis 28. Januar 2018 zeigt die Akademie der Künste ihre große Ausstellung Benjamin und Brecht - Denken in Extremen, die aus dem Vollen schöpfen kann, immerhin gehören die umfangreichen Werkarchive des Kritikers und des Dichters zu ihrem Bestand. Zwischen beiden Intellektuellen hat es nicht gleich gefunkt. Als eine gemeinsame Freundin, die Kommunistin Asja Lacis, sie 1924 in Berlin zusammenbrachte, kam kein konstruktiver Dialog in Gang. Das änderte sich etwa 1929, vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs der Nationalsozialisten: Brecht und Benjamin reagierten darauf mit einer verstärkten Orientierung an der marxistischen Gesellschaftstheorie. Sie teilten die Hoffnung auf die Arbeiterklasse als historischer Macht, stark genug, die Herrschaft des Bürgertums zu beenden und dem Faschismus paroli zu bieten. Es gab Pläne für eine Lesegemeinschaft gegen Heidegger und eine Zeitschrift mit dem Namen Krisis und Kritik; sie sollte eingreifendes Denken lehren. Brecht und Benjamin flohen vor den Nazis und setzten ihr Gespräch fort, brieflich und während Benjamins drei Aufenthalten in Brechts dänischem Exil. Fotos zeigen sie im Garten des Brechtschen Häuschens in Svendborg beim Schachspiel: Brecht war der aggressivere Spieler, Benjamin der bedächtig-defensive. Meistens gewann Brecht. Dass beide den Temperamentsunterschied und den Widerspruch des Gegenübers suchten, spricht für ihre Größe. Die Ausstellung arbeitet mit sorgfältig ausgesuchten Dokumenten und einer exzellenten Betextung (für die Typografie zeichnet Friedrich Forssmann verantwortlich) die Gegensätze heraus: Brecht konnte mit Benjamins Aura-Theorie sowenig anfangen wie mit dessen Begeisterung für Baudelaire. Brecht warnte Benjamin, sich zu sehr in Abhängigkeit vom Institut für Sozialforschung Adornos und Horkheimers zu begeben, jene sahen den Einfluss Brechts auf Benjamin als verhängnisvoll an. Beide teilten die Faszination durch Kafkas Schriften, kamen aber zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen seiner Bedeutung. Beide sahen sich durch den Rundfunk und die technische Reproduzierbarkeit von Kunst herausgefordert, waren auf der Suche nach einer neuen, zeitgemäßen Kunst und den richtigen Begriffen dafür. Gemeinsam arbeiteten sie am Plot für einen Kriminalroman. Als Brecht 1941 vom Tod des schwierigen Freundes erfuhr, der sich bei der Flucht über die Pyrenäen das Leben genommen hatte, was der Dichter erschüttert; mehrere Gedichte zeugen davon. "Neuer Gedanken Heraufkunft und neuer Schwierigkeiten", das allein hätte ihn doch im Leben halten müssen, ruft Brecht dem verlorenen Gesprächspartner nach. Um die Zeugnisse ihres Dialogs legt sich in der Ausstellung der Akademie ein Kranz von Arbeiten jüngerer Künstler - so hat Stefan Thiemann den Kriminalroman der beiden Meisterdenker als Graphic Novel in Holz geschnitten und Alexander Kluge eine Videocollage beigesteuert; für ihn sind Benjamin und Brecht "Steuerungsengel im Dickicht des 21. Jahrhundert" geblieben. Infos zur Ausstellung
Die Fernsehserie Berlin Babylon hat das Interesse am Berlin der Weimarer Republik neu befeuert, mit der Kleinen Zeitung hat Michael Bienert darüber gesprochen, wie wenig golden Berlin damals wirklich war:

http://www.text-der-stadt.de/KlZ_Okt_2017.jpg

Fritz Ascher - Wiederentdeckung eines Malers

Die Ausstellung läuft bis zum
11. 3. 2018 in der
Villa Oppenheim.
Von Elke Linda Buchholz - Einen so vollständig vergessenen Künstler zurückzuholen in die Aufmerksamkeit, braucht Kraft, Geduld und kreative Energie. Vor 30 Jahren stieß die deutsch- amerikanische Kuratorin Rachel Stern bei einem Sammler auf Arbeiten von Fritz Ascher. Sie hatte noch nie von ihm gehört. Jetzt ist sie als quasi weltweit einzige Expertin für den 1893 geborenen Maler wieder zurück in der Stadt, wo auch er einst gelebt und gearbeitet hat. Hier bei Max Liebermann holte der junge Wilde sich als 16-Jähriger nach abgebrochener Schule die höheren Weihen einer Empfehlung an die Königsberger Kunstakademie und startete zwischen Secessionisten und Expressionisten seine Karriere. Hier in Berlin war es, wo er von den Nazis drangsaliert, inhaftiert, in Kellerverstecke gedrängt wurde und trotzdem überlebte. Weiterlesen im Tagesspiegel

Sonntag, 29. Oktober 2017

Yolla Niclas und Alfred Döblin

Bauarbeiter in Berlin, um 1930
Foto: Yolla Niclas (aus dem
besprochenen Band)
Der Frankfurter Literaturwissenschaftler und Fotohistoriker Eckhardt Köhn untersucht in einer Monographie luzide die langjährige Beziehung Alfred Döblins zu seiner Freundin und "Schwesterseele" Yolla Niclas. Dabei kommt sie nicht nur als Anhängsel der literaturwissenschaftlichen Forschung, sondern als eigenständige Künstlerpersönlichkeit zu ihrem Recht.

Am 24. Februar 1900 wurde Charlotte Niclas in Berlin als Tochter eines jüdischen Kaufmanns geboren, mit 20 lernte sie auf einem Ball den mehr als doppelt so alten verheirateten Arzt und Dichter Alfred Döblin kennen: der Anfang einer für beide ebenso beglückenden wie schmerzhaften Beziehung, da es für Döblin unmöglich war, sich von seiner Frau und den Kindern zu trennen, trotz der seelischen Übereinstimmung, die er im Zusammensein mit der jüngeren Freundin empfand. Etwa um dieselbe Zeit schloss Niclas eine Ausbildung zur Fotografin beim Lette-Verein ab und arbeitete zunächst als Standfotografin beim Film für den innovativen Kameramann Karl Freund. Bald machte sie sich in Berlin selbständig und fand Anerkennung als Porträt- und Werbefotografin. So stellte die Zeitschrift Gebrauchsgrafik ihre Arbeit 1932 auf sechs Seiten vor, und auch im Pariser Exil konnte Niclas bis zum Einmarsch der Deutschen ihren Lebensunterhalt als Fotografin verdienen. Niclas´ Fotos von Berliner und Pariser Alltags- und Straßenszenen lassen ein Interesse am städtischen Alltag erkennen, das sie mit Döblin teilte. Leider ging ihr gesamtes fotgrafisches Frühwerk im Zweiten Weltkrieg fast vollständig verloren, ebenso wie zahllose Briefe, die ihr Döblin geschrieben hat.
Aus dem besetzten Frankreich gelang Yolla Niclas, inzwischen mit einem aus Deutschland geflohenen jüdischen Rechtsanwalt verheiratet, die Flucht in die USA, wo sie ihrer großen Liebe wiederbegegnete. Nach großen Startschwierigkeiten konnte sie in der USA bald wieder als Fotografin reüssieren, empfohlen von dem berühmten Alfred Stieglitz, der ihr Werk als "all fresh and her own" lobte. Niclas´ letzte großen Arbeiten waren Kinderbücher mit anspruchsvollen Fotoerzählungen; sie starb 1977, zwanzig Jahre nach Döblin.
Köhns Publikation in der Reihe "Fotofalle" ist für Döblin-Liebhaber und -Forscher schon deshalb ein Muss, weil hier erstmals Niclas´ eigene Erinnerungen an ihre Freundschaft mit Döblin in Gänze nachzulesen sind; sie hatte das Manuskript noch zu Lebzeiten dem Deutschen Literaturarchiv anvertraut und bis 2005 gesperrt. Der Herausgeber Eckhardt Köhn zieht in seinem detektivischen Essay weitere Quellen und Werke Döblins heran, um dieser unauflösbaren Liebesbeziehung auf die Spur zu kommen. Das Gefühl seelischer Verbundenheit hat den Dichter in seiner naturphilosophischen Annahme bestärkt, es existiere eine geheime Einheit der beseelten Natur; ähnlich hat Yolla Niclas selbst ihre Bindung an Döblin über den Tod hinaus interpretiert. In seinem letzten Brief verabschiedete Döblin sich von ihr mit den Worten: "Ich eine kleine Wolke am Himmel."

Eckhardt Köhn (Hg.)
Yolla Niclas und Alfred Döblin
Fotofalle 3, 140 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Edition Luchs, Lautertal 2017, 24 Euro
ISBN  978-3-00-057707-9

Bestellbar über:
Edition Luchs
An der Teichmühle 15
36369 Lautertal
edition.luchs@gmx.de

Donnerstag, 26. Oktober 2017

Döblins Pankow

In der ehemaligen Irrenanstalt in Buch hat
Alfred Döblin als junger Assistenzarzt gearbeitet.
Foto aus DÖBLINS BERLIN.
Was hat Alfred Döblin mit Pankow zu tun? Das wollte Christian Hönicke für den Tagesspiegel-Newsletter Pankow wissen, der heute per Mail verschickt wurde. Anlass ist das Erscheinen des Buches DÖBLINS BERLIN von Michael Bienert: 

Hönicke: Herr Bienert, wo hat Sie Döblin hingeführt?

Bienert: Döblin war vor allem „Ostler“, so nannte er sich einmal selbst. Er kannte das ansässige Arbeitermilieu im Ostteil der Stadt aus erster Hand und hat es präzise und unideologisch mit allen Widersprüchen beschrieben, etwa in seinem großen Revolutionsroman „November 1918“. Sein Lebensmittelpunkt war lange die Gegend um die Frankfurter Allee. Aber natürlich verschlug es ihn auch über die Bezirksgrenzen, nach Lichtenberg, Kreuzberg und auch ins heutige Pankow.

Hönicke: Ein Kapitel haben Sie seiner Arbeit in Buch im heutigen Bezirk Pankow gewidmet. Welche Rolle spielt die kurze Episode in seinem Leben und seinem Werk?

Bienert: Eine durchaus wichtige. Er hat von 1906 bis 1908 als junger Assistenzarzt in der Städtischen Irrenanstalt in Buch (siehe Fotos) gearbeitet, dort lernte er auch die Pflegerin Frieda Kunke kennen; aus dem Verhältnis ging Döblins unehelicher Sohn Bodo hervor. Später hat er Buch durch „Berlin Alexanderplatz“ zum Schauplatz von Weltliteratur gemacht. Seine alltäglichen Erlebnisse bilden die Grundierung für das große Finale des Romans, für Franz Biberkopfs Ringen mit dem Tod im sogenannten „Festen Haus“ in Buch. In dem wurden psychisch gestörte Kriminelle von den anderen Patienten getrennt untergebracht. Das ist auch deswegen spannend, weil das Haus bis heute dieselbe Funktion hat, obwohl der Rest der Anlage in der Nazizeit zu einer normalen Klinik umgewandelt wurde. Dafür wurde die Mehrzahl der Insassen verschleppt und ermordet.

Hönicke: Welche Orte in Pankow sind noch von Relevanz für Döblins Berlin?

Bienert: In „Berlin Alexanderplatz“ taucht das Obdachlosenasyl Fröbelstraße in Prenzlauer Berg auf, in dem sich heute das Krankenhaus befindet. Ob Döblin je selbst dort war, ist unklar, aber er muss mit Leuten zu tun gehabt haben, die das Asyl kannten. Seine Beschreibungen sind sehr detailliert und kenntnisreich. Der frühere Zentralviehhof im südlichen Zipfel von Prenzlauer Berg wurde durch „Berlin Alexanderplatz“ ebenfalls weltberühmt. Der gehörte quasi zur Nachbarschaft seiner Wohnung in der Frankfurter Allee. Und auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee sind Döblins Mutter und seine Schwester begraben.

Hinweis: Am 7. Dezember liest Michael Bienert um 20 Uhr in der Buchhandlung Chaiselongue in der Dietzgenstraße 68 (Niederschönhauen) aus seinem Buch (Verlag für Berlin-Brandenburg, 192 Seiten, 200 Abb., 25 Euro). Autor und Verlag sind übrigens auch in Pankow ansässig.

Samstag, 14. Oktober 2017

Fahrradfahren in Berlin - 13 Großstadtgeschichten

13 Geschichten ums Fahrradfahren in Berlin aus 130 Jahren: MasterstudentInnen des Studiengangs Historische Urbanistik am Center für Metropolitan Studies der TU Berlin (CMS) haben sie recherchiert und aufgeschrieben. Präsentiert werden die urbanistischen Schlaglichter ab sofort in der Rubrik "Großstadtgeschichten" auf der Website der Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
Geleitet hat das Projekt Dr. Dagmar Thorau, mit der Michael Bienert in den vergangenen zwei Jahren am CMS zusammengearbeitet hat: http://grossstadtgeschichten-berlin.de/themen/show/16

Kabinett der Spiegel - Wechselblicke in der Kunstbibliothek

Foto: Museum für Asiatische Kunst – SMB / Maja Bolle 
Im 18. Jahrhundert begeisterte sich Europa mit Teehäusern und Porzellanfiguren für China. Und China kopierte Barockpaläste. Elke Linda Buchholz über eine Ausstellung in der Berliner Kunstbibliothek. Hier lesen

Samstag, 7. Oktober 2017

DÖBLINS BERLIN - LITERARISCHE SCHAUPLÄTZE - ab sofort im Buchhandel

Das neue Buch von Michael Bienert ist aus der Druckerei gekommen und so schön geworden wie  KÄSTNERS BERLIN und E. T. A. HOFFMANNS BERLIN. Das Triple ist also gelungen und von Autor und Verleger (Foto: Leon Buchholz) begossen worden. Bis Weihnachten sind sechs Lesungen in Berlin geplant (Termine siehe rechte Spalte), weitere Veranstaltungen in Vorbereitung.  

Freitag, 1. September 2017

Führungen durch die Flusspferdhofsiedlung am 9. September. Es sind noch Plätze frei!

Bruno Heider, Bauleiter der
Flusspferdhofsiedlung, um 1933
Für die Führungen von Michael Bienert in der Flusspferdhofsiedlung in Lichtenberg am Tag des offenen Denkmals (9. September um 11 und 14 Uhr) sind noch einige Plätze frei, obwohl die erste Anmeldefrist abgelaufen ist.
Neben den Weltkulturerbesiedlungen gehört die 1932 bis 1934 errichtete Flusspferdhofsiedlung zu den bedeutendsten Leistungen des sozialen Wohnungsbaus der Weimarer Republik in Berlin. Sie ist mit rund 837 Wohnungen sozusagen die "kleine Schwester" der großen Reichsforschungsiedlung in Spandau-Haselhorst.
Die Führung mit Besichtigung der denkmalgeschützten Gartenanlagen und einer Wohnung dauert etwa eine Stunde, die Teilnahme kostenlos. Anmeldungen bitte möglichst rasch, spätestens bis 6. September an Jarno Hansen (Gewobag), j.hansen@gewobag.de oder Tel. 47081541.

Zum Vorbericht in der Berliner Woche

Brunnenanlage der Siedlung im Frühjahr 2017.

Döblins Berlin - Video zur Entstehung des Buches online

Das neue Buch von Michael Bienert über DÖBLINS BERLIN geht in wenigen Tagen in den Druck und ist ab Oktober lieferbar. Vorab gibt der Autor einen Einblick in seine Arbeitsweise und Entstehung des Buches. Für das 5-Minuten-Video wurde an mehreren Schauplätzen gedreht, produziert hat es Sportfotograf und Youtuber Leon Buchholz. Mehr zum Buch auf der Verlagsseite.



Samstag, 5. August 2017

Döblins Berlin - zusätzliche Führungen wegen großer Nachfrage am 10. und 11. August 2017

Die Führungen zu Döblins Berlin im Rahmen der Döblin-Woche des Literaturforums im Brecht-Haus am 5. und 6. August sind ausgebucht. Es gibt Zusatztermine wegen der großen Nachfrage:
Donnerstag, 10. 8. 2017 und Freitag, 11. 8. 2017, 17 Uhr
Döblins Berlin. Stadtspaziergang mit Michael Bienert 
Treffpunkt: Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestraße 125
Preis 5 / 3 Euro
Anmeldung unter: doeblin@text-der-stadt.de

Sonntag, 16. Juli 2017

"Vorsicht, Kinder!" in der Humboldt-Box

Von Elke Linda Buchholz - Neil MacGregor fürchtete sich als Kind vor seiner großen Schwester, Hermann Parzinger fühlte sich allein im leeren Elternhaus mulmig. Die Ängste der Kinder sind nicht die der Erwachsenen. Dafür sorgen sie sich um ihren Nachwuchs. Die zweite Ausstellung des Humboldt-Forums unter der Gründungsintendanz von MacGregor und Co. hat sich mit „Vorsicht Kinder! geschützt, geliebt, gefährdet“ ein Thema vorgenommen, das wirklich alles und jeden verbinden kann. Jeder war einmal Kind. Und ohne Kinder hat keine Gesellschaft Zukunft. Weiterlesen

Skulpturen auf Diät

In der Ausstellung „Spuren“ im Haus am Kleistpark erobern Linien die dritte Dimension. Selten kommt eine Schau so luftig, transparent, fast schwerelos daher. Elke Linda Buchholz hat sie im Tagesspiegel besprochen. Hier lesen

Sonntag, 9. Juli 2017

Ein Streifzug durch die Berliner Ateliers von Käthe Kollwitz

Das verschwundene Atelierhaus in Tiergarten,
Siegmunds Hof 11, auf einer Postkarte.
"Die Ateliers der Käthe Kollwitz erzählen viel darüber, wie sie ihren Alltag in verschiedenen Lebensabschnitten organisierte – pragmatisch und eigenwillig, mit viel Empathie für die Menschen um sie herum und der unerlässlichen Portion künstlerischen Egoismus, ohne den es nicht geht im Alltag zwischen Kinderzimmer, Arztpraxis, Radier- und Bildhauerwerkstatt." - Zum 150. Geburtstag von Käthe Kollwitz am 8. Juli 2017 ist im Tagesspiegel ein langer Streifzug von Elke Linda Buchholz durch die Atelierstandorte der Künstlerin in Berlin erschienen, den Sie hier nachlesen können: http://www.tagesspiegel.de/berlin/150-geburtstag-von-kaethe-kollwitz-die-muehen-einer-mutter/20034138.html

Donnerstag, 6. Juli 2017

Anita Berber bekommt einen Park

Der naturnahe Anita-Berber-Park auf dem ehemaligen St. Thomas Friedhof in Neukölln wird am 10. Juli durch Senatorin Regine Günther eröffnet. Benannt wird der Park nach der legendären Ausdruckstänzerin Anita Berber, die 1928 auf dem Friedhof der St. Thomas Gemeinde beerdigt wurde. Der Teil des Friedhofs, der in der früheren Einflugschneise des Flughafen Tempelhofs liegt, wurde Ende der 1980er Jahre aufgegeben. Die Grünfläche wurde als Ausgleichsmaßnahme für den Ausbau der Stadtautobahn A 100 naturnah umgestaltet und ist wegen ihrer vielfältigen Flora und Fauna ökologisch wertvoll. - Wann: Montag, den 10. Juli 2017, 13.30 Uhr - Wo: Anita-Berber-Park (ehem. St. Thomas Friedhof) in Berlin-Neukölln Hermannstraße 79-83 (U-Bhf. Leinestraße in Fahrtrichtung auf rechter Seite aussteigen; die Eröffnung findet auf der Platanenallee statt). (Quelle: Senatsverwaltung)

Freitag, 2. Juni 2017

Der Mosse-Almanach 2017 I 20 Jahre Mosse-Lectures

Das Mosse-Haus an der Jerusalemer,
Ecke Schützenstraße.
Anzeige von 1928
Seit 20 Jahren organisiert das Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität die Mosse-Lectures in Erinnerung an die jüdische Verlegerfamilie Mosse, die 1933 aus Berlin vertrieben wurde.  Der Verlagsgründer Rudolf Mosse war einer der großen Pressezaren des Kaiserreichs, mit dem Berliner Tageblatt schenkte er der Reichshauptstadt ein liberales, demokratisches Debattenforum, das nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs treu zur Weimarer Republik stand. Im wiederaufgebauten Verlagshaus, seit dem Umbau durch Erich Mendelssohn eine Ikone moderner Geschäftshausarchitektur, fanden vor 20 Jahren die ersten Lectures statt. Die Vortragsreihen zu kulturwissenschaftlichen und aktuellen gesellschaftlichen Themen sind akademisch fundiert, richten sich aber eine breitere Öffentlichkeit, bieten auch Schriftstellern, Künstlern, Architekten Querdenkern ein Forum. In diesem Semester bildet die "Kritik des Liberalismus" den roten Programmfaden, bei der Festveranstaltung gestern abend würdigte Jost Hermand die liberale, bildungsorientierte und demokratische Gesinnung Rudolf Mosses und seiner Erben.
Zum 20. Geburtstag der von Klaus R. Scherpe mitbegründeten Veranstaltungsreihe ist ein von Elisabeth Wagner herausgegebener Almanach erschienen, der mit vielen historischen Quellen die Aktivitäten der Familie Mosse in Berlin beleuchtet: Ihre Topografie umfasst neben den Verlagsstandorten im Zeitungsviertel auch das fürstliche Mosse-Palais am Leipziger Platz und das philanthropische Mosse-Stift in Schmargendorf, sowie das verfallende Schloss Schenkendorf in Brandenburg. Vorgestellt werden Protagonisten des Berliner Tageblatts wie der Kunstkritiker Fritz Stahl, der Theaterkritiker Alfred Kerr, die Gerichtsreporterin Gabriele Tergit. Albrecht Dümling widmet sich dem Einfluss der Familie Mosse auf das Berliner Musikleben, Jost Hermand aus der Perspektive des Kollegen dem Historiker George L. Mosse, der 1997 mit einem Vortrag die Mosse-Lectures eröffnete - das Manuskript, ein Zeitdokument, ist als Faksimile reproduziert. Lisa Trekel und Johanna Hähner stellen die Mosse-Frauen vor.
Michael Bienert und Elke Linda Buchholz schildern das Schicksal der Kunstsammlung Rudolf Mosses, die 1934 versteigert wurde und erst durch spektakuläre Restitutionsfälle in jüngster Zeit wieder ins Bewusstein der Berliner Öffentlichkeit zurückgekehrt ist.

Elisabeth Wagner [Hg.]
MOSSE ALMANACH 2017
Historisches und Aktuelles aus dem Hause Mosse.
20 Jahre MOSSE-LECTURES
an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2017, 272 Seiten, 19 Euro
ISBN 978-3-940384-91-1

Zur Website der Mosse-Lectures

Dienstag, 30. Mai 2017

Im Theater (63): Oliver Reese & Co. stellen ihre Pläne für das Berliner Ensemble vor

Von Michael Bienert - Endlich wieder ein Arbeitsplatz in Berlin! Oliver Reese, in guten Zeiten Chefdramaturg am Maxim-Gorki-Theater und Deutschen Theater (bei Bernd Wilms), zuletzt Intendant am Schauspiel Frankfurt, ist die Erleichterung anzumerken. Aber ziemlich aufgeregt ist er auch, das merkt man, jetzt in der Nachfolge von Helene Weigel, Ruth Berghaus, Heiner Müller und dem unerwähnt bleibenden Claus Peymann das Programm des Berliner Ensembles für die Spielzeit 2017/2018 vorzustellen. Reese gibt den Anti-Peymann: Keine großen Sprüche zur Weltlage, keine scharfen Worte gegen die Presse, kein Politiker-Bashing. Hier sitzt kein ichbezogenes Genie, sondern ein Teamspieler, ist die Botschaft. Zum Leitungsteam zählt er ausdrücklich auch Michael Thalheimer (Chefregisseur), Sibylle Baschung (Dramaturgie), Clara Topic-Matutin (Dramaturgie, Talentscout) und Moritz Rinke (Leiter Autorenprogramm), sie sitzen mit auf der Bühne im Rangfoyer des Theaters. Man kennt sich seit mindestens 12 Jahren und will hier "mit Geduld" etwas Schönes auf die Beine stellen. Auch unter den 28 fest engagierten Schauspielern sind viele Bekannte, alle haben schon an großen Bühnen gespielt, am Deutschen Theater, der Schaubühne, der Volksbühne, dem Burgtheater, wir nennen nur: Constanze Becker, Judith Engel, Ingo Hülsmann, Corinna Kirchhoff, Wolfgang Michael, vom alten Berliner Ensemble Peymanns werden nur Peter Luppa und Veit Schubert übernommen. 17 der 12 Premieren in der kommenden Spielzeit sind lebenden Autoren gewidmet, Frank Castorf inszeniert daneben Les Miserables und Thalheimer Brechts Kaukasischen Kreidekreis. Das weitere ist bitteschön auf der neuen Website des Berliner Ensembles nachzulesen. Interessant ist das von Moritz Rinke geleitete Projekt einer Autorenwerkstatt, bei der die Schreiber vor allem eng mit Schauspielern zusammenarbeiten sollen und auch das Publikum in die Stückentwicklung einbezogen werden könnte. Es ist schon eine tolle Truppe, die Oliver Reese um sich versammelt hat, keine Frage. Dahinter steckt eine gediegene Theaterphilosophie (Autorentheater! Ensembletheater! Gegenwartsstoffe! Erzählung statt Dekonstruktion!), die sich gar nicht so sehr von der des scheidenden Peymann unterscheidet (seine letzte Inszenierung wird sogar übernommen). Anders als das Volksbühnenpublikum nach dem Abgang von Frank Castorf muss das Stammpublikum des Berliner Ensembles keinen totalen Traditionsbruch fürchten.

Mittwoch, 17. Mai 2017

Harry Croners Berlin - Zwei Bildbände aus dem Verlag M

Der Dönhoffplatz 1937
Foto von Harry Croner
Von Michael Bienert - Am 23. März 1935 sprach der erste nationalsozialistische Bürgermeister des Bezirks Mitte, Wilhelm Lach, auf einer öffentlichen Sitzung des Vereins über die geschichtliche Sendung der Berliner Innenstadt. Er erklärte es für unmöglich, dass statt der Straße unter den Linden der Kurfürstendamm - wie in der Weimarer Republik - die Lebensnote angebe. Nach seiner Ansicht konnte das nur geschehen „unter einer marxistisch-liberalistischen Verwaltung, die ohne Verständnis für die Traditionen, nicht erkannte, dass die Innenstadt der substantiell wertvollste Teil von Berlin ist und bleiben muss." Der 1901 geborene Lach wurde wenige Monate später Opfer eines Verkehrsunfalls.
Diese Information stammt von der Website des Vereins für die Geschichte Berlins. Sie wirft ein Licht auf ein Foto, das in einem neuen Bildband des Verlags M, des Hausverlages des Stadtmuseums, abgedruckt ist. Zu sehen ist dort eine Parkanlage auf dem Dönhoffplatz, in der Mitte steht ein Glockenturm mit weithin sichtbaren Uhrenziffernblättern, erst bei sehr genauem Hinsehen erkennt man das Hakenkreuz am Sockel. Die Bildlegende im Fotobuch lautet: "In der Weimarer Republik wurde der Platz zunehmend als Erholungsraum an einer der beliebtesten Einkaufsmeilen Berlin, der Leipziger Straße, wahrgenommen. Seit 1935 befand sich in der Mitte des Platzes ein Glockenturm mit Lebensuhr. Alle fünf Minuten ertönte ein Kinderlied zum Zeichen der Geburt eines Menschen in Deutschland, alle sieben Minuten spielten die Glocken einen Choral für einen Sterbenden."
Wer Wilhelm Lach war, erfahre ich nicht aus dem Buch. Dass dieser Glockenturm etwas mit der Naziideologie zu tun haben könnte, dass hier ein öffentlicher Platz zu einem Propagandainstrument für die Geburtensteigerung des deutschen Volkes gemacht wurde, muss ich mir zusammenreimen.
Historische Fotografien zusammenzustellen und zu kommentieren, ist eben auch eine Kunst. Bei dem Band Berlin 1937/1947 mit Fotos von Harry Croner besteht der Kunstgriff der Herausgeberinnen Angelika Ret, Bärbel Reißmann und Bettina Machner darin, Fotos von der scheinbar heilen Welt im Berlin der nationalsozialistischen Vorkriegszeit mit Fotos der kaputten Stadt nach dem Bombenkrieg zu kombinieren. Auf den ersten Blick wirkt es politisch korrekt und eindrucksvoll, auf den zweiten Blick melden sich Zweifel: Reicht es, die Bilder von 1937 als Beleg dafür heranzuziehen, dass die Nationalsozialisten damals fest im Sattel saßen und ein großer Teil der Bevölkerung glaubte, Hitlers Deutschland-zuerst-Politik habe alle Probleme gelöst? Aussagekräftiger wäre es vielleicht gewesen, die Bilder mit Aufnahmen von 1927 zu kontrastieren, um zu begreifen, wie das Stadtbild von den Nazis brutal aufgeräumt und mit einem NS-Bildprogramm überzogen wurde.
Der junge Fotograf Harry Croner hatte - jedenfalls suggeriert das die Auswahl - noch nicht die Kraft, sich mit der Kamera gegen die Stadtbildpolitik der Nazis zu wehren. Die im Buch veröffentlichten Fotos zeigen eine scheinbar intakte Metropole. Die Bildkommentare lassen daran auch wenig Zweifel aufkommen, während das Vorwort des Historikers Götz Aly immerhin das sich im Hintergrund zusammenballende Unheil reflektiert. Von weit höherem dokumentarischem Wert als seine Bilder von 1937 sind Croners Fotoserien aus dem zerstörten Berlin. Nach dem Krieg war Croner ein fleißiger Pressefotograf, bis Ende der 1980er Jahre hat er viel Kulturprominenz, Theater und Kabarett abgelichtet, hat den Glamour West-Berlin in Schwarz-Weiß-Aufnahmen festgehalten, die  Optimismus und gute Laune ausstrahlen: zu besichtigen in dem bereits 2014 erschienenen Fotoband Bühne West-Berlin. 1989, zwei Jahre vor Croners Tod, erwarb das Berlin Museum sein 1,3 Millionen Fotos und andere Dokumente umfassendes Archiv. Für ein stadthistorisches Museum mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Theatergeschichte ist es ein großes Glück, aus so einem Fundus schöpfen zu können. Ich frage mich beim Durchblättern der beiden Bildbände, ob es in einem Fotoarchiv dieser Größe nicht nicht doch mehr Bilder zu entdecken gäbe, die Berlin aus einer unüblicheren Perspektive zeigen.

Berlin 1937/1947
Fotografien von Harry Croner
Herausgegeben von: Angelika Ret, Bärbel Reißmann, Bettina Macher
Edition Stadtmuseum Berlin 2017,
152 Seiten, 132 Abbildungen, 19,90 €




Bühne West-Berlin
Fotografien von Harry Croner aus vier Jahrzehnten
Herausgegeben von Peter Schwirkmann, Bettina Machner, Bärbel Reißmann und Angelika Ret Edition Stadtmuseum Berlin 2014
288 Seiten, 282 Abbildungen, 29,90 €

Zur Verlagswebsite

Freitag, 12. Mai 2017

Von der "Zeitungsstadt Berlin" zur Medienmetropole - Buchpremiere im Ullsteinhaus

Elektronische Kommunikation gehörte schon
1927 zum Alltag im Ullsteinhaus.
Von Michael Bienert - Die Zeitungsstadt Berlin wird immer unsichtbarer. Zeitungsausrufer gibt es schon lange nicht mehr, die Kioske werden weniger, die Zeitungsleser in U-Bahnen und Bussen sind beinahe verschwunden. Kaum zu glauben, dass immer noch etwa eine halbe Millionen Tageszeitung täglich in Berlin verkauft werden. Die Auflagen sinken stetig, rasche Informationen suchen und finden die meisten Leser im Internet. Die Epoche des Papiers und der Zeitungen scheint reif fürs Museum. Seit Jahren will eine Initiative ein Pressemuseum im Ullsteinhaus etablieren, kommt aber damit nicht wirklich vom Fleck.
Nun steht ein rundes Jubiläum ins Haus: 1617, vor vierhundert Jahren erschien die Frischmann-Zeitung, die erste gedruckte Zeitung in Berlin. Doch Feierlaune ist nirgends zu spüren. Das Jubiläum löst bange Fragen aus: Wie lange wird es gedruckte Zeitungen überhaupt noch geben wird und was bedeutet die digitale Revolution für den Journalismus? Der Axel-Springer-Verlag hat Traditionsblätter wie die Berliner Morgenpost und das Hamburger Abendblatt bereits abgestoßen, weil er in ihnen nur noch lästigen Ballast auf dem Weg zum digitalen Medienkonzern sah. Der Medienwissenschaftler Leonard Novy ist überzeugt, dass es in absehbarer Zeit zur Einstellungen weiterer Zeitungstitel in Berlin kommen wird, weil die Gewohnheiten der Medienkonsumenten sich ändern und die ökonomische Basis der Zeitungen schrumpft.
Gestern abend im Ullsteinhaus saß Novy auf einem Podium mit Morgenpost-Chefredakteur Carsten Erdmann und Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner, Brigitte Fehrle moderierte die Diskussion um den Überlebenskampf der Qualitätszeitungen. Die Morgenpost versucht mit der größten Lokalredaktion in Berlin die Leser zu halten, der Tagesspiegel erweitert sein Angebotsspektrum für anspruchsvolle und zahlungskräftige Zielgruppen wie Ärzte und Lobbyisten. Experimentieren, um zu überleben, lautet die gemeinsame Devise.
Dass Qualitätsjournalismus niemals alleine durch den Verkauf toller Artikel an die Leser finanzierbar war, sondern durchs Anzeigengeschäft und den Verkauf weniger anspruchsvoller Produkte mitfinanziert werden musste, kann man aus Peter de Mendelssohns Buch Zeitungsstadt Berlin lernen. Zum 400. Berliner Zeitungsjubiläum wurde das Buch, dessen Autor bereits 1982 starb, neu aufgelegt. De Mendelssohn arbeitete vor 1933 als Journalist in Berlin, nach dem Zweiten Weltkrieg war er als britischer Presseoffizier an der Gründung des Tagesspiegels und der Welt beteiligt. Seine Erzählung vom Aufstieg und Niedergang der Zeitungsstadt Berlin in der NS-Zeit bezieht ihre Anschaulichkeit aus dieser Zeitzeugenschaft und der Vertrautheit mit der journalistischen Praxis. Für die Neuausgabe haben die Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister, Leif Kramp und Stephan Weichert ein 50-seitiges Update unter der Überschrift Von der Zeitungsstadt zur Digitalwirtschaft verfasst, das die jüngsten Entwicklungen resümiert, und siehe da: Im Zeitraffer wird sichtbar, wie quirlig und kreativ die Zeitungsstadt Berlin allen Unkenrufen zum Trotz geblieben ist. Springer hat durch seine Digitalisierungsstrategie den Profit enorm gesteigert, die taz hat sich mit Hilfe eines Genossenschaftsmodells stabilisiert, der Tagesspiegel mit den Mehr Berlin-Seiten und dem Checkpoint-Newsletter erfolgreich neue Formate im Print- und Onlinebereich etabliert. Die FAZ ist mit der Wiederbelebung des Berlin-Feuilletons auf den Berliner Seiten zwar gescheitert, aber sie hat damit Berliner Zeitungsgeschichte geschrieben. Den Namen Zeitungsstadt verdient Berlin vielleicht bald nicht mehr. Als Medienstadt ist die Hauptstadt so bunt, experimentierfreudig und vielstimmig wie in den besten Zeiten.

Peter de Mendelssohn u. a.
Zeitungsstadt Berlin
Menschen und Mächte in der deutschen Presse
Ullstein, Berlin 2017
ISBN-13 9783550081576, 816 Seiten, 42 Euro

Donnerstag, 27. April 2017

Die Magie der kleinen Dinge in der Gemäldegalerie

Hans Verhagen der Stomme:
Ratten und Mäuse
Quelle: smb / Kupferstichkabinett / V. H. Schneider 
Von Elke Linda Buchholz - Der kleine Kabinettraum der Gemäldegalerie ist selbst eine Miniatur. Wer sich hierher verirrt, wird mit 26 feinsten niederländischen Naturstudien beglückt. Die Blütenlese bestechend präziser Zeichnungen und Drucke fungiert als Seitenstück zur großen Maria Sibylla Merian-Schau eine Etage höher und beleuchtet, querbeet, was den Beobachtungsgeist der Künstler weckte. Winzige Walderdbeeren, blaue Akelei und Vergissmeinnicht ließ um 1500 ein unbekannter Miniaturist als Randzier um die stille Studierstube des Heiligen Markus wachsen. Unten krabbelt eine Raupe vorbei.
Rund 100 Jahre später hat sich die Naturstudie bei Roelant Savery zur Hauptsache emanzipiert. Der Tierspezialist konterfeit eine Grüne Meerkatze haargenau ab. Nicht in deren heimatlicher Sahararegion, sondern im kaiserlichen Tierpark Rudolfs II. in Prag begegnete der Maler dem dunklen Blick des gefangenen Tieres. Auch die Kette vergaß Savery nicht zu notieren. Er brauchte solche Tierstudien als Basismaterial für seine begehrten, vor Tierarten strotzenden Paradiesdarstellungen, von denen auch die Gemäldegalerie eine besitzt.
Der Antwerpener Zeitgenosse Hans Verhagen der Stomme strichelte die Textur von Schildkrötenpanzern so exakt, dass sich die Spezies bis heute bestimmen lassen. Seine lebensgroßen Ratten und Mäuse sträuben niedlich ihr graues oder braunes Fell. Auch ein Albino ist darunter. Sonderbares und Fremdartiges faszinierte besonders. Bis ins Makabre überspitzte Meisterzeichner Jacques de Gheyn den Naturalismus. Eine tote Ratte zeigt er enthäutet und skelettiert. Weiterlesen auf tagesspiegel.de

Freitag, 7. April 2017

Tonnenleicht - Der Bildhauer Fritz Kühn

Durch die kupfergetriebenen Reliefportale von Fritz Kühn schreitet man in die Komische Oper. Im kriegsgeschundenen Innenraum der Parochialkirche hängt sein mächtiges Kreuz. Am Strausberger Platz setzt sein quasi schwebendes Brunnenrund aus geometrisch-abstrakten Kupferplatten einen modernistischen Kontrapunkt zur neoprächtigen Henselmann-Architektur. Wer die Stadtbibliothek betritt, kann sich buchstäblich im Vorbeigehen ein „A“ greifen: In 117 Varianten ziert das berühmte Buchstabenportal seit 1965 die Front. Nun ist im Kunsthaus Dahlem eine Ausstellung über den Künstler Fritz Kühn zu sehen, Elke Linda Buchholz hat sie für den Tagesspiegel besucht: http://www.tagesspiegel.de/kultur/fritz-kuehn-im-kunsthaus-dahlem-tonnenleicht/19608116.html

Montag, 3. April 2017

Im Theater (62): "Freischütz"-Premiere in Heidelberg

Die Wolfsschlucht ist eine leere Drehbühne, mehr nicht. Umso verstörender, was dort exekutiert wird: Kaspar und Max müssen einen Menschen ausweiden, damit Samiel die Zauberkugeln herausrückt, die immer ins Ziel treffen. Die Berliner Regisseurin Sandra Leupold geht volles Risiko, wenn sie die Wolfsschluchtszene mit fast nichts als halbnackten Körpern und Theaterblut spielen lässt, sie polarisiert damit das Heidelberger Publikum, hält aber fein die Balance zwischen demonstrativem Theaterspiel und blutigem Ernst. Die drei Akteure (Alexander Geller als Max, James Homann als Kaspar, AP Zahmer als Samiel) sind auf der rotierenden Scheibe physisch extrem gefordert, wissen dabei in jeder Sekunde, was sie tun, während die Höllenmusik Webers schroff aus dem Orchestergraben wetterleuchtet (am Pult: Dietger Holm).
Nichts ist in dieser Aufführung romantisch weichgespült und breitgemalt, die Musik eine Geisterbahnfahrt durch alptraumhafte Seelenzustände. Verquält schleppt sich Max von Szene zu Szene, mitleidlos gemobbt vom Jägerchor und den Jägerfrauen, rumgeschubst, angespuckt, verprügelt. Auch Agathe (Hye-Sung Na) wird ihrer Liebe zu Max auch nicht froh. Lyrische Momente  ("Oh lass Hoffnung dich beleben...") verlegt die Regie (durch Lichtwechsel) eindeutig in die Innenwelt der Figuren, die soziale Welt bietet dafür keinen Anhalt.
"Durch die Wälder, durch die Auen" geht es ohne Schmelz, der "Jungfernkranz" ist Teil eines albernen Junggesellinnenabschieds, für den die von Ännchen (Irina Simmes) angeführten Mädels sich mit Geweihchen schmücken. Man und frau trägt quietschbunte Turnschuhe zu Röcken, Kleidern, Uniformen und Jagdtracht (Kostüme: Jessica Rockstroh) aus der Restaurationsperiode um das Uraufführungsjahr 1821: Die Nationaloper spielt in deutscher Vergangenheit, steht aber im Hier und Heute. Eine "Alptraumlandschaft der deutschen Seele" (Sandra Leupold) führt sie vor, dumpf bedrückend und zugleich schwebend. Vom Schnürboden heben und senken sich ganz sachte Brautkleid, Gewehr, Spindel, Uhr, Tannenzapfen, Plastikgießkanne, Jägerhut, Geweih, Horn, Kerzenlicht und Dutzende weiterer Requisiten, füllen den tiefschwarzen Bühnenhimmel (Stefan Heinrichs), eine surreal anmutende Rauminstallation.
In der Volkssage "Der Freischütz", auf der die Oper basiert, gibt es kein Happyend: Die teuflische siebte Kugel trifft die Braut und der Bräutigam endet im Irrenhaus. Darauf steuert auch die Oper zu, doch ein heiliger Mann schreitet ein, der die Liebenden schützt und das Schlimmste verhindert. "Der rein ist von Herzen und schuldlos von Leben, darf kindlich der Milde des Vaters vertraun", lautet dann die Schlusssentenz der Oper. Die Regisseurin ist misstrauisch, sieht gerade in diesem milden Finale einen Ausgangspunkt der deutschen Misere, das Sich-Einrichten in einer langen Kette der Subordination. Biedermeierlich bleibt es bei den Rollenzuweisungen an die Geschlechter, die Frauen dürfen zuhause häkeln, während die feschen Jäger draußen im Wald herumballern. Webers Schluss können Regisseurin und Dirigent nicht umschreiben, ihre Skepsis ist nicht zu überhören.
Termine, Besetzung und Fotos auf der Website des Theaters Heidelberg

Universalkünstler: Friedrich Kiesler im Martin-Gropius-Bau

Seine Architekturentwürfe wurden, bis auf einen, nicht gebaut. Seine Designermöbel gingen nicht in Serie. Berühmt wurde er außerhalb von Insiderkreisen auch nicht. Aber Friedrich Kieslers wortstarke, mit Witz und Furor formulierten Manifeste wurden gelesen, seine Bücher gedruckt. Und seine Ideen wirken bis heute nach.
Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, konzipiert von der Wiener Nachlassstiftung des Universalkünstlers und Utopisten, beleuchtet seine Ideen und Projekte. Sie will zeigen, wie aktuell Kiesler angesichts von Transdisziplinarität, Mobilität und dem Crossover zwischen Design und Wissenschaft ist. Mehr dazu von Elke Linda Buchholz auf www.tagesspiegel.de

Donnerstag, 30. März 2017

Soziale Moderne: Otto Bartning in der Akademie der Künste

Wohnblock von Otto Bartning in Haselhorst
Foto: Bienert
Als Kirchenbaumeister gehört Otto Bartning zu den bekannten deutschen Architekten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Person und ihr Gesamtwerk sind dahinter verblasst - zu Unrecht, wie nun eine große Retrospektive in der Akademie der Künste zeigt. Zu Lebzeiten unter Kollegen hoch geschätzt, nannte ihn Oskar Schlemmer einmal den "eigentlichen Vater des Bauhaus-Gedankens" - doch war Walter Gropius der viel geschicktere Propagandist der gemeinsam entwickelten Ideen für eine neue Kunstausbildung, während Bartning sich nie in den Vordergrund spielte. Zentral für ihn war der Gedanke einer Gemeinschaft, für die Architekten angemessene Räume schaffen sollten, seien es Kirchen, Krankenhäuser, Wohngebäude oder ein Wohnquartier wie das Berliner Hansaviertel. Ohne selbst dort zu bauen, war Bartning der Initiator, Organisator und Regisseur der Bauausstellung im Tiergarten vor 60 Jahren. Die weiten Ausstellungshallen der Akademie der Künste am Hanseatenweg sind daher der ideale Ort für eine Würdigung.
Stahlkirche in Köln, 1928
Ausgangspunkt war die langjährige wissenschaftliche Aufarbeitung des privaten Nachlasses von Otto Bartning in der TU Darmstadt. Moderne Baugesinnung beflügelte den jungen Architekten schon in der Kaiserzeit, er schloss sich dem Deutschen Werkbund an, nach der Novemberrevolution dem Arbeitsrat für Kunst, engagierte sich in der 1926 gegründeten Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen und in der Architektenvereinigung Der Ring: Bartning war immer zur Stelle, wenn es darum ging, modern, qualitätvoll und wirtschaftlich zu bauen.
Otto Bartning um 1930
(Foto: AdK)
In der Nazizeit ging er nicht ins Exil wie viele Weggefährten, verlor aber an Einfluss, hielt sich von der Naziideologie fern und baute ausschließlich Kirchen. Politisch unbelastet spielte Bartning in der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle als Integrationsfigur und Brückenbauer zu vertriebenen Kollegen, ab 1950 als Präsident des Bundes Deutscher Architekten. Das Wort "Wiederaufbau" lehnte er ab: "Aber schlichte Räume lassen sich auf den bestehenden Grundmauern und aus den brauchbaren Trümmerstoffen errichten." Auf gesellschaftliche Herausforderungen angemessen zu reagieren, als Architekt das Beste daraus zu machen, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, diese Grundhaltung zieht sich durch Bartnings vielfältiges Werk, das in der großen Akademieausstellung und in dem schönen Katalog eine völlig angemessene Würdigung erfährt.

Bis 18. 6. 2017 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg
Weitere Informationen 

Sonntag, 12. März 2017

Hier baut Suhrkamp


Hinter der Volksbühne, zwischen Tor- und Linienstraße, baut der vor sieben Jahren von Frankfurt nach Berlin umgezogene Suhrkamp Verlag seinen neuen Geschäftssitz. Die Informationspolitik des Bauherren und Baumfällungen auf der Grünfläche haben Anwohnerproteste ausgelöst, der Verlag versichert, es werde ein neuer hochwertiger Stadtplatz vor dem Neubau entstehen. Mehr im Tagesspiegel

Samstag, 11. März 2017

Ian McEwans "Nussschale" in der Kritik eines Lesezirkels

"Das schlechteste Buch, das ich seit langem gelesen habe." - "Toll erzählt." - "Virtuos gemacht, aber es hat mich total kalt gelassen." - "Eine wirklich originelle Perspektive auf die Welt." - Unser neunköpfiger Lesezirkel* war völlig geteilter Meinung über Ian McEwans Roman Die Nussschale. Aus der Perspektive eines Fötus im Mutterleib wird ein Ehebruch und Gattenmord erzählt, mit vielen Anspielungen auf Shakespeares Hamlet und anderen literarischen Referenzen, ist doch der Vater des Fötus Lyrikdozent und Verleger. Der ungeborene Erzähler kennt sich auch schon mit den Weinsorten, mit Lagen und Jahrgängen bestens aus, die seine Mutter mit ihrem Liebhaber verkonsumiert. Klar, das ist hoch ironisch und komisch gemeint, viel schwarzer britischer Humor funkelt in diesem Monolog. Die kontrafaktische Annahme, dass ein Ungeborenes bei vollem Bewusstsein das Geschehen um ihn herum reflektiert, muss man als Ausgangspunkt des Erzählexperiments akzeptieren - aber dass auch die aus dieser eingeschränkten Innensicht geschilderte Mutter sich absolut nicht wie eine Schwangere im neunten Monat verhält, dass das Geschehen dann weitgehend doch aus der Außenperspektive und Gedankenwelt eines älteren weißen Autors geschildert wird, kann man als Schwäche werten. Sich auszudenken, wie der Fötus den Geschlechtsverkehr der Mutter von innen beobachtet, ist witzig, aber eben nur das, weil in eine belanglose Spintisiererei. Dabei hat Bernard Robben Nutshell hervorragend übersetzt. Viele witzige Sprachspiele und Anspielungen gehen dennoch verloren, das fängt schon beim Titel ein: Die Redewendung in the nutshell schwingt darin mit, was soviel heißt wie auf den Punkt. Ergebnis der kontroversen Diskussion: Man kann dieses Buch mit großem Genuss konsumieren, besonders wenn man sehr gut Englisch liest, es aber auch mit Grund total doof und langweilig finden. Das stärkste Buch des vielfach preisgekrönten Autors Ian McEwan sei es nicht, zumindest in diesem Punkt herrschte Übereinstimmung.

* Gemeinsam gelesen und diskutiert wurde der Roman von einer Kunsthistorikerin, einem Feuilletonisten, einer Autorin, einem Juristen, einer Germanistin, einem Übersetzer, einem Regisseur einem Romanist und einem Linguisten.

Ian McEwan
Nussschale
Diogenes Verlag
Zürich 2016
288 Seiten, 22 Euro


Samstag, 4. März 2017

Im Herbst 2017 erscheint "Döblins Berlin. Literarische Schauplätze" von Michael Bienert

Berlin sei Benzin, schrieb Alfred Döblin, und der „Mutterboden aller meiner Gedanken.“ Von der Gründerzeit bis zur Vertreibung durch die Nazis war der Schriftsteller und Nervenarzt rund 40 Jahre lang Augenzeuge des Aufstiegs Berlins zur Metropole, hat das Stadtleben reflektiert, kommentiert und mitgestaltet. Der Streifzug durch Döblins Werke und seine Stadt führt zum Alexanderplatz, ins Scheunenviertel, ins Berliner Rathaus, in Krankenhäuser und ins Gefängnis, bis hinter die Vogesen und ins 26. Jahrhundert. Die Schauplätze des Romans Berlin Alexanderplatz bilden den roten Faden, denn seit 25 Jahren leitet Michael Bienert Stadtspaziergänge auf den Spuren des Romanhelden Franz Biberkopf. Das Buch erscheint im Herbst 2017 bei vbb - verlag für berlin-brandenburg.

150 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen. Eine Jubiläumsausstellung

Von Elke Linda Buchholz - Zwischen dicken Plexiglasscheiben klemmt ungesponnene Schafwolle: Rohstoff für Gewebe, Netze, Fallstricke, Wärmendes. Oder Symbolmaterial zum Weiterspinnen. Den Mythos vom Goldenen Vlies nimmt Silvia Klara Breitwieser in ihrer schon vor 30 Jahren entstandenen Installation zur antiken Argonautensage zum Ausgangspunkt, Alltagsfundstücke zwischen Hightech und Lowtech zu befragen. Computerplatine, Torfstück, Eisenschraube, Wollgespinst: Wie entsteht geistiger Mehrwert? Die Gedanken nehmen Fahrt auf. Die Argonautin schifft sich ein und segelt weiter. Acht Positionen von Künstlerinnen versammelt die Ausstellung in der Kommunalen Galerie Berlin. Was sie eint: Sie sind Mitglieder des vor 150 Jahren gegründeten Vereins der Berliner Künstlerinnen. Weiterlesen auf www.tagesspiegel.de

René Wirth, der Dingemaler

Von Elke Linda Buchholz - Der Maler nimmt den Hammer zur Hand. Unverzüglich muss der Keilrahmen nachgespannt werden, gleich hier in der Ausstellung im Haus am Lützowplatz. Denn auf der weißen Leinwand haben sich Dellen gebildet, Schattenwürfe also. Das darf nicht sein, das lenkt bloß ab. In diesem Fall von dem großen Hühnerei, das sich formatfüllend auf der Leinwandfläche rundet. Es ist ein Ei, sonst nichts. René Wirths malt Dinge. Viel größer als in Wirklichkeit erscheinen sie, aber merkwürdigerweise nicht überdimensioniert – sondern gerade richtig, um die fein dokumentierten Oberflächen genau unter die Lupe zu nehmen. Weiterlesen auf www.tagesspiegel.de

Montag, 30. Januar 2017

Das Döblin-Handbuch

Wer sich näher mit Alfred Döblin befasst, verliert leicht den Überblick. Oder kommt ins Aufzählen, weil dieser Autor - jenseits des kanonisierten Großstadtromans "Berlin Alexanderplatz" - ein nicht nur vom Umfang einschüchterndes, sondern äußert vielfältiges Werk hinterlassen hat, in dem Döblin sich immer wieder neu den großen Zeitfragen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte. Entsprechend hoch ist die Mauer von Sekundärliteratur, die sich mittlerweile um das Werk türmt: Eine vom Deutschen Literaturarchiv erstellte neue Personalbibliografie umfasst 5000 Fundstellen zu Autor und Werk, davon alleine 500 zum Roman "Alexanderplatz".
Um sich in dieser Überfülle zu orientieren, kommt das von Sabina Becker herausgegebene, im Metzler Verlag erschienene "Döblin-Handbuch" gerade recht. Versierte Döblinologen haben sich die Herkulesarbeit aufgeteilt und übersichtlich den Stand der Döblin-Forschung zusammengefasst: Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf der Vielfalt der Interpretationen als auf gesicherten Erkenntnissen zur Entstehungsgeschichte einzelner Werke, zu Döblins eigenen Fragestellungen und Herangehensweisen, zur Bedeutung der Themen und Arbeiten innerhalb des Gesamtwerks. Damit bekommen Leser oder Wissenschaftler rasch festen Boden unter den Füßen, wenn sie sich eingehender mit einem der großen Romane, mit der Bedeutung der furiosen Kurz- und Zeitungsprosa, Döblins Poetik, der Haltung des praktizierenden Nervenarztes zu Psychiatrie und Psychoanalyse oder seinem Exilwerk - um nur ein paar Beispiele zu nennen - befassen wollen. Mit anderen Worten: Dieses spröde und massive, aber im Großen und Ganzen doch sehr um Lesbarkeit bemühte 800-Spalten-Nachschlagewerk ersetzt tatsächlich eine ganze Döblin-Sekundärbibliothek. Es macht damit den Blick frei auf die Werke eines Autors, der sich ein gutes halbes Jahrhundert lang immer wieder neu positioniert hat, sowohl weltanschaulich als auch poetisch, der sich nie mit einem einmal erreichten Bewußtseinsstand oder Schreibstil zufrieden gegeben hat - und dadurch immer ein aktueller und inspirierender Autor bleiben wird.


Sabina Becker (Hg.)
Döblin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung
J. B. Metzler Verlag, 2016
400 Seiten, 99,95 Euro
ISBN 978-3-476-05376-3
Verlagsinfos

Freitag, 20. Januar 2017

Der letzte Chamisso-Preis geht an Abbas Khider

Foto: Yves Noir / Robert-Bosch-Stiftung
Der Schriftsteller Abbas Khider erhält den mit 15.000 Euro dotierten Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung 2017. Mit diesem Preis wird sein bisheriges Gesamtwerk geehrt. Darin erweise sich Abbas Khider "als sprachsensibler Beobachter der Verzweiflung, Verstörtheit, Wut und Hoffnung junger Männer, die ihre Heimat verlassen müssen und Zuflucht in Europa suchen", so die Begründung der Jury.
Mit der Wahl unterstreicht sie noch einmal die Bedeutung dieses Preises und was damit verloren geht: ein wirksames Förderinstrument für Schreibende, die in ihren Herkunftsländern keinerlei Chance auf eine literarische Karriere haben. In einer Zeit, in der Nationalisten und Rassisten immer hemmungsloser auftreten und politisch salonfähig werden, hat die Robert-Bosch-Stiftung mir ihrer Abschaffung des renommierten Literaturpreises das falsche Zeichen gesetzt. Er wird ab sofort nicht mehr verliehen, weil die Stiftung ihn - angesichts des Erfolges vieler "eingewanderter" Autoren im Literaturbetrieb - für nicht mehr zeitgemäß hält.
Die mit je 7.000 Euro dotierten Förderpreise gehen an die Autorin Barbi Marković für ihren witz- und schwungreichen Stadtroman "Superheldinnen" (Residenz 2016) sowie an den Autor Senthuran Varatharajah für seinen originellen, als Facebook-Dialog aufgebauten Roman "Vor der Zunahme der Zeichen" (S. Fischer 2016). Weitere Informationen