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Montag, 7. Januar 2013

Im Theater (43): Demenz, Depression und Revolution am Maxim-Gorki-Theater

Auf dem Sprung von Berlin nach Stuttgart:
Armin Petras alias Fritz Kater
Foto: Bienert
Ein weißes Bündel liegt links auf der leeren Bühne, die mit einem fadgrünen halbhohen Samtvorhang ausgeschlagen ist. Der Mann in der langen weißen Unterwäsche ist ein aussichtsloser Pflegefall. Mit Mühe kann er noch aufstehen, aber dann muss man sich gleich Sorgen machen, dass er irgendwas umrennt oder sich verletzt. Dinge klar erkennen, zielstrebig handeln, mit anderen Menschen ein Gespräch anfangen, sich verständlich äußern - das war einmal. Früher hieß so etwas Altersschwachsinn, heute pseudowissenschaftlich Demenz. Schreckbild einer Gesellschaft, die statistisch immer älter wird. Kehrseite des medizinischen Fortschritts, der dafür sorgt, dass immer weniger Leute wegsterben, ehe der Tod auf Raten beginnt. Die Gesellschaft ist darauf schlecht vorbereitet. Wer sich um einen Angehörigen mit Gedächtnisverlust kümmert, kann seine Lebens- und Karrierepläne vergessen. Der Staat zieht sich aus der Affäre, indem er seit Januar jedem 60 Euro zuzahlt, der eine private Pflegeversicherung abschließt. Wieder wird ein drängendes Problem der Gesamtgesellschaft privatisiert.
Wenn das Theater sich als Ort der Selbstaufklärung einer Gesellschaft versteht, dann gehört das Thema Demenz auf die Bühne, keine Frage. Aber wie? Armin Petras, der künftige Chef des Stuttgarter Staatsschauspiels, ist nicht der Intendant, der reflexartig Shakespeares „König Lear“ auf den Spielplan setzt und die Theatermaschinerie einfach weiterlaufen lässt. Er hat mit seinen Schauspielern ein Geriatriezentrum in Berlin besucht und sie in Alterssimulationsanzüge schlüpfen lassen, um herauszufinden, wie man sich hilft, wenn die Gelenke, Muskeln und Augen versagen. Bei seinem Alter Ego, dem Dramatiker Fritz Kater, gab der Regisseur Armin Petras ein Stück zum Thema Demenz in Auftrag. Fritz Kater lieferte eine Collage aus kleinen Versatzstücken, gespeist aus Erfahrungsberichten und Demenzdiskurssplittern.

Fünf Schauspieler und der Musiker Miles Perkin tasten sich auf leerer Bühne an das heikle Thema heran. Zu dem total hilflosen Mann in weißer Anstaltskleidung (Thomas Lawinky) gesellen sich ein geistig verwirrter Radfahrer (Michael Klammer), Stressgeschädigte (Peter Kurth), Angehörige und Ärzte. Mit vorgeschnallten Theaterbäuchen wechseln die Schauspieler drollig Perücken, Brillen und Haltungen, reden in abgerissenen Sätzen, spielen Miniszenen aus einem Altersheim. Keine zusammenhängende Geschichte, auch keine hyperpräzisen Fallstudien wie in Peter Brooks Inszenierung „L´Homme Qui“, die auf Schilderungen über Hirngeschädigte basierte.
Und doch hat Katers theatralische Collage eine erkennbare Richtung. Sie läuft paradoxerweise auf eine Entdramatisierung des Themas Demenz hinaus. „Sie nennen es Krankheit, ich nenne es Altern“ ist ein Schlüsselsatz des Abends. Das Altern ist für jeden Menschen so unausweichlich wie der Tod. Beides ist eine Zumutung, aber eben auch menschlich, etwas, das Menschen verbindet und zueinander bringen kann.
Mit der Diagnose Demenz werden die Alterungssymptome aus dem Alltag ausgegliedert und an die Ärzte, Gesundheitspolitiker und die Medizinindustrie überwiesen. Diese Mythenbildung der Leistungsgesellschaft unterläuft das Petras-Theater, indem es den geistigen Verfall der Alternden liebevoll und lustbetont nachstellt. Es billigt dem hilflosen weißen Menschenbündel vom Anfang eine poetische Innenwelt zu, die sich ganz am Ende mitteilt, als es viele, viele Schmetterlingsnamen ins Publikum spricht: „Schwarzer Falter, nimm mich mit / Ein Schnitt“.
Während des Monologs wird die Bühne (Annette Riedel) für das zweite Stück des Abends umgebaut. Vor einem halbtransparenten Vorhang, gegen den von hinten Theaterregen prasselt, erzählt ein Paar die Geschichte seiner Ehe. Er, der Spitzensportler (Michael Klammer) steckt in einem viel zu eleganten schwarzen Anzug, an seiner Seite eine extrem hübsche und lebenslustige Spielerfrau (Aenne Schwarz), ein sympathisches Paar. Der Mann macht Karriere als Torwart im internationalen Fußballgeschäft, die Frau hat einen Hundefimmel und bringt ein todkrankes Kind zu Welt, doch das ständige Auf und Ab in Beruf und Beziehung führt bei dem Sportidol nicht zur Festigung der Persönlichkeit. Er kann seine psychischen Störungen nicht öffentlich machen und stürzt sich wie das reale Vorbild Robert Enke unter einen Zug.
Die Öffentlichkeit nennt das jetzt Depression und entdeckt eine neue  Volkskrankheit. Diese Pathologisierung von möglicherweise ganz normalem Leistungsversagen versieht die Aufführung mit einem dicken Fragezeichen: Es bleibt ziemlich offen, ob der Torwart einfach durch psychische Disposition und Schicksalsschläge aus der Bahn geworfen wurde oder die Überanpassung an ein gnadenloses Leistungsprinzip.
Als drittes Thema, das die Öffentlichkeit bewegt, hat Armin Petras neben Demenz und Depression die Revolution identifiziert, ausgelöst durch den arabischen Frühling. Im dritten Stück des Abends führt eine etwas sehr sprunghafte Zeitreise zurück in den Prager Frühling des Jahres 1968, basierend auf Aufzeichnungen des tschechischen Filmemachers Pavel Juráček. In Katers Stück „Tagebuch eines Revolutionärs/Versuch einer Fälschung“ heißt die Hauptfigur Pawel. Als geschwätzigen und unerträglichen Monomanen stellt ihn zunächst Thomas Lawinky vor, später tauscht er die Rolle mit Christin König und Svenja Liesau, die  zunächst Pawels blondzopfige Tochter Judika und eine krebskranke Geliebte verkörpern. Im Hintergrund flimmern Videos und Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Prager Wenzelsplatz während der Demonstrationen und ihrer Niederschlagung durch sowjetische Panzer.
Der Künstler Pawel ist viel zu sehr mit sich und seinem Filmprojekt beschäftigt, um in die Revolution einzutauchen, kann sich ihr aber auch nicht entziehen. Die Inszenierung selbst wird immer stärker zu einem Happening mit lustigem Mummenschanz und Musikeinlagen, zu einer Hommage an die entfesselte Kunst der späten 1960er Jahre. Und damit zu einer Absage an die latente Erwartung, der fast vierstündige Theaterabend werde sich zuletzt doch noch zu einem großartigen Aha-Erlebnis aufschwingen.
Demenz, Depression und Revolution stellen das herrschende Leistungsprinzip in Frage - auch auf dem Theater. In seiner letzten großen Berliner Inszenierung vor dem Wechsel nach Stuttgart zeigt Armin Petras wenig Lust, irgendwelche Erwartungen an sein Theater zu erfüllen. Er weiß ja, es funktioniert anders, eher durch das Loslassen von scheinbaren Gewissheiten und Erwartungen. Wie ungezwungen wirken seine Schauspieler, wie gelöst und verwandlungsfähig, wie gerne schaut man ihnen zu! Stuttgart darf sich auf einen Theaterchef freuen, der sein Haus maximal durchlässig für das machen wird, was in der Welt vorgeht. Und auf einen Regisseur, der ein Ensemble formen kann, indem er aus gehemmten Schauspielern geschmeidige  Geschichtenerzähler macht.

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Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 7. Januar 2013

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