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Mittwoch, 7. Dezember 2011

Umkämpfte Bäume

Draußen vom Walde kommen sie allesamt her: Knecht Ruprecht und der Weihnachtsmann, der böse Wolf und der gute Jäger, die zarten Elfen und der grobschlächtige Räuber Hotzenplotz. Seit gut 200 Jahren dient der Wald den Deutschen als Projektionsraum, bevölkert von Gestalten, die in der modernen Alltagswelt keinen besseren Platz finden. Die Romantiker entdeckten den Wald als Reservat des Geheimnisvollen, Urtümlichen, Heilen und Heiligen, was bis heute nachwirkt: Mit dem Weihnachtsbaum holen sich die Familien ein Stück vom mythisch verklärten Wald ins Wohnzimmer. Der Dezember ist also der ideale Zeitpunkt, um das Thema Wald mitten in die Haupt- und Millionenstadt zu pflanzen, in deren Zentrum man den zahllosen Weihnachtsmärkten gar nicht ausweichen kann. Selbstverständlich funkelt, dampft und duftet so eine Budenkolonie auch genau gegenüber vom Zeughaus, in dem das Deutsche Historische Museum pflichtschuldig seinen Volksbildungsauftrag erfüllt. Die Themenvorgabe kam diesmal direkt von der Politik: Im von der UNO ausgerufenen „Jahr der Wälder“ fühlte sich das Landwirtschaftsministerium aufgerufen, eine gewaltige PR-Kampagne zu starten.
Stolz verweist Ministerin Ilse Aigner auf 6000 Wald-Aktionen mit 1000 Partnern in diesem Jahr. Das vom Kulturstaatsminister auskömmlich finanzierte Deutsche Historische Museum bekam 50.000 Euro zusätzlich für eine krönende Ausstellung. Im Kellergeschoss des Pei-Baus führt sie die Besucher auf einem windungsreichen Pfad von Lichtung zu Lichtung durch einen Wald von etwa 400 Exponaten: Alltagsdinge, Gemälde, Fotos, Karten, Plakate, Filmausschnitte. Fast alle stammen aus der Lebenszeit eines einzigen Baums. Die Jahresringe einer 1710 gekeimten und im Jahr 2000 gefällten Esche führen gleich zu Beginn vor Augen, dass Bäume uns Menschen in puncto Ausdauer wirklich baumhoch überlegen sind.
Und was lässt sich nicht alles aus ihrem Holz machen: Kuckucksuhren und Räuchermännchen, Stühle und Särge, Papier und sogar Computertastaturen. Diesseits aller Romantik ist der deutsche Wald ein Wirtschaftsfaktor mit einem Gesamtumsatz von 172 Milliarden Euro pro Jahr. In der Forst- und Holzwirtschaft arbeiten deutlich mehr Menschen als in der Autoindustrie. Systematische Waldbewirtschaftung und Forstwissenschaft entstanden im 18. Jahrhundert, als der Rohstoff Holz in Deutschland schon mal knapp zu werden begann. Gezwungenermaßen mussten die privaten und staatlichen Eigentümer zu nachhaltigem Wirtschaften übergehen. Durch Aufforstung und Schonung der Bestände stellten sie eine neue ökologische Balance her.
Um 1800 war der Wald in Deutschland ein Pflegefall und Objekt rationaler Zukunftsplanung geworden, gleichzeitig aber breitete sich die Vorstellung aus, er sei ein urtümlicher, unberührter Lebensraum jenseits der modernen Zivilisation. Der Dichter Ludwig Tieck erfand 1797 die romantische „Waldeinsamkeit“, in seinem Gefolge besang Joseph von Eichendorff die rauschenden deutschen Wälder: „O Täler weit, o Höhen, / O schöner grüner Wald / Du meiner Lust und Wehen / Andächtger Aufenthalt!“ Maler wie Caspar David Friedrich und Carl Blechen, Komponisten wie Carl Maria von Weber und Felix Mendelssohn-Bartholdy adaptierten diese Motivik. Politisch aufgeladen wurde sie während der Herrschaft Napoleons über Mitteleuropa. Plötzlich  erinnerten sich die Deutschen an Tacitus´ Bericht vom Sieg der Germanen über die römischen Eroberer in unwegsamen Urwäldern.  Seit den Kriegen gegen Napoleon galt der Wald als Urquell deutscher Kraft und kriegerischer Überlegenheit.
Der Wald wurde so zu einem Pfeiler nationaler Identität. Bis heute schmückt ein Eichenblatt deutsche Centmünzen, als Nationalsymbol gleichrangig mit Bundesadler und Brandenburger Tor. Die Weimarer Republik plante, zu Ehren der Toten des Ersten Weltkrieges ein Reichsehrenmal in Gestalt eines Waldes mit einer Million Eichen zu pflanzen. „Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht!“, verkündeten in der Nazizeit große Schilder vor Naherholungsgebieten. Ein Biologie-Lehrbuch von 1938 demonstriert die Verschmelzung von Rassetheorie und Forstwissenschaft: Am Beispiel des deutschen Waldes sollte die Jugend lernen, dass es in einer „geordneten Lebensgemeinschaft“ naturgemäß „herrschende“, „beherrschte“ und „Mittelschichten“ gebe; und dass jede „Baumrasse“ sich nur in ihrem „angeborenen Lebensraum“ zu wahrer Stärke entfalten könne. Zu selben Zeit rodeten KZ-Häftlinge Wälder für den Lagerbau und schufteten in unter Bäumen gut versteckten Rüstungsfabriken.
Nach dem Krieg restaurierten Heimatfilme die Vorstellung vom Wald als Heile-Welt-Idyll. Als Gegenpol zeigt die Ausstellung Ausschnitte aus Fernsehkrimis, in denen der Wald bis heute vielfach als Tatort dunkler Triebe herhalten muss. Politisch-ideologisch ist der deutsche Wald inzwischen fest in der Hand von Umweltschützern und Ökobewegung. Die politische Linke hat das Erbe der deutschen Romantik angetreten, beflügelt durch Vordenker wie Joseph Beuys, der 7000 Eichen in Kassel pflanzen ließ, denn: „Die Bäume sind nicht wichtig, um dieses Leben auf der Erde aufrecht zu erhalten, nein, die Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten.“  
Nicht zuletzt die medial geschürte Angst vor einem großen Waldsterben in den Achtzigern hat radikale Öko-Ideen in der Bevölkerung mehrheitsfähig gemacht. Wer den liebsten Sehnsuchtsort der Deutschen verteidigt, kann auf breites Verständnis quer durch alle Schichten rechnen. Deswegen ist der Kampf um die Deutungshoheit über den deutschen Wald gewiss noch nicht beendet! 


Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 7. 12. 2011.

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