All die Luxusgeschäfte aber zehren vom Ruf der Gegend
als Szeneviertel, den andere geschaffen haben: In den ersten Jahren nach dem
Fall der Berliner Mauer zogen schräge Kunstgalerien, kleine Theater und andere
Kulturprojekte in die baufälligen Häuser. Nur wenige sind noch da. Im Verlauf
der Stadtsanierung, die 2008 nach 15 Jahren abgeschlossen wurde, hat eine
wohlhabendere Klientel die Gegend um den Hackeschen Markt in Besitz genommen.
Nun wird auch die Kunstruine Tacheles an der
Oranienburger Straße Stück für Stück geräumt. Das Varieté „Chamäleon“ in den
Hackeschen Höfen und wenige ältere Cafés haben sich erfolgreich mit den
Touristenströmen arrangiert. „Alles glänzt“ rufen bunte Plakate am Durchgang
dem Hinterhof, wo seit 15 Jahren die Sophiensäle der freien Tanz- und
Theaterszene eine Plattform bieten. Dass es sie hier noch gibt, grenzt an ein Wunder.
Eher erwartet man heute in den großzügigen Räumen des ehemaligen
Handwerkervereinshauses eine Werbeagentur oder noch ein Privatmuseum
eines millionenschweren Kunstsammler. Nun aber ist sogar kräftig in die
Theaterzukunft investiert worden: Fast drei Millionen Euro haben die Berliner
Lottostiftung und der private Eigentümer in das geräumige Backsteingebäude
gesteckt, um den Theaterbetrieb für Künstler, Publikum und Nachbarn angenehmer
zu machen.
Neue Garderoben und Toiletten, schalldichte Fenster, eine
Belüftungsanlage und einen Aufzug gibt es nun, das Minimum an Komfort, aber – o
Glück! – keinerlei falschen Glanz. Die schrundigen Wände und Decken durften die
Patina eines Jahrhunderts behalten. Man spürt, wie intensiv hier auf dem
Hinterhof seit der Kaiserzeit debattiert, gefeiert und Theater gemacht wurde.
An den ehrwürdigen Türen zum größten Saal hat man sogar Zeitungsschnipsel aus
Honeckers Zeiten kleben gelassen. Und die künstlerische Aufbruchsstimmung, die
hier nach dem Mauerfall einzog, ist noch vorstellbar, nein: sogar noch
lebendig.
Die neue künstlerische Leiterin Franziska Werner kennt
das Haus seit 15 Jahren, hat hier Produktionen und Reihen betreut und will
weiter, wie sie sagt, „am Theater der Zukunft arbeiten“. Die Sophiensäle sollen
ein Versammlungsort für die Künstler der freien Szene bleiben, ein „offener
Möglichkeitsraum“ nicht irgendwo an der Peripherie, sondern in der Mitte der
Hauptstadt. Hinter diesem Theatertraum stehen drei namhafte Gesellschafter der
Sophiensäle GmbH: Sasha Waltz startete hier ihre internationale Karriere als
Choreografin, Jochen Sandig hat mit dem „Radialsystem“ inzwischen ein weiteres
Produktionshaus für die freie Szene eröffnet und Amelie Deuflhard leitet nach
den Sophiensälen seit 2007 die Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg.
Das Stammkapital des Unternehmens ist seine glänzende
Vernetzung in der Szene; den laufenden Betrieb unterstützt der Berliner Senat
derzeit mit jährlich 750.000 Euro für Miete, Sachkosten und Personal. Innerhalb
dieses Rahmens „bestimmen die Künstler die Struktur, in der produziert wird“,
betont Franziska Werner. Darin sei das freie Theater den festen Häusern
überlegen: „Die Schauspieler genießen das.“ Doch gleichzeitig beklagt die
künstlerische Leiterin das Fehlen eines eigenen Produktionsetats. Für jedes
Projekt muss immer erst Geld aus anderen Fördertöpfen beantragt werden. Mal
klappt das, mal nicht. Diese Unsicherheit erschwert insbesondere die
Kooperation mit anderen Theatern.
Nur gemeinsam aber sind Produktionen zu stemmen wie
die hochkarätig besetzte Inszenierung zur Wiedereröffnung, ein
dreieinhalbstündiger „Kirschgarten“ der Regisseure Thorsten Lensing und Jan
Hein. Beide sind den Sophiensälen seit Jahren eng verbunden. Tschechow nannte
sein letztes Stück ein Komödie, entsprechend beherzt wird es hier angepackt:
Mit Krach und Schweiß bauen die Schauspieler sich selbst ihr Bühnenbild aus
alten Dielen und roten Hohlblocksteinen, während das Publikum in den Saal
einzieht. Unruhig wuseln sie hin und her, schreien sich an, ziehen sich gegenseitig
den Stuhl unterm Hintern weg. Kein sachte melancholischer Abschied von der
alten Zeit, die der Kirschgarten symbolisiert, wird in dieser Aufführung
zelebriert; nein, die Figuren stehen Hochspannung, weil sie in eine neue,
ungewisse Epoche gestoßen werden.
Allen voran die bankrotte Gutsbesitzerin Andrejewna
(Ursina Lardi), hier ein in die Jahre gekommenes, schillerndes Partygirl, aber
auch der fleissige Immobilienspekulant Lopachin (Devid Striesow), der den
Kirschgarten ersteigert und abholzen lässt. Kleinere Rollen wie der Nichtsnutz Semjon
(Joachim Król) und der alte Diener Firs (Valentin Jeker) sind ebenfalls
prominent besetzt. Maria Hofstätter ist ein drall-komisches Dienstmädchen, dem
Schwadroneur Lonja leiht Peter Kurth seine pralle Präsenz. Dass die insgesamt
14-köpfige Truppe einen nicht ganz so feinnervigen Tschechow zeigt wie ein
eingespieltes Stadttheaterensemble Ensemble, wen wunderts. In die abgeschabten
Sophiensäle passt dieser hemdsärmelige Tschechow-Abend allemal. Nach 15 Jahren sind
sie so etwas wie der Kirschgarten der freien Szene in Berlin. „Ein Stück
Heimat“, hofft die künstlerische Leiterin Franziska Werner, in einer Umgebung,
wo längst die geschäftstüchtigen Lopachins das Sagen haben. Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 13. 12. 2011
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