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Montag, 12. Dezember 2011

Im Theater (29): Kirschgarten der freien Szene

War das mal eine öde Gegend hier! Wie trostlos, verfallen und beinahe menschenleer die engen Straßen mit den alten Häusern vor 20 Jahren aussahen, können sich die Touristen und Nachtschwärmer um den Hackeschen Markt gar nicht vorstellen. Nun ist daraus ein Modeviertel geworden, überall haben Boutiquen aufgemacht und sogar Kneipen verdrängt. Eine Infrastruktur für Berlin-Touristen und solvente Neu-Berliner beherrscht das Straßenbild.
All die Luxusgeschäfte aber zehren vom Ruf der Gegend als Szeneviertel, den andere geschaffen haben: In den ersten Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer zogen schräge Kunstgalerien, kleine Theater und andere Kulturprojekte in die baufälligen Häuser. Nur wenige sind noch da. Im Verlauf der Stadtsanierung, die 2008 nach 15 Jahren abgeschlossen wurde, hat eine wohlhabendere Klientel die Gegend um den Hackeschen Markt in Besitz genommen.
Nun wird auch die Kunstruine Tacheles an der Oranienburger Straße Stück für Stück geräumt. Das Varieté „Chamäleon“ in den Hackeschen Höfen und wenige ältere Cafés haben sich erfolgreich mit den Touristenströmen arrangiert. „Alles glänzt“ rufen bunte Plakate am Durchgang dem Hinterhof, wo seit 15 Jahren die Sophiensäle der freien Tanz- und Theaterszene eine Plattform bieten. Dass es sie hier noch gibt, grenzt an ein Wunder. Eher erwartet man heute in den großzügigen Räumen des ehemaligen Handwerkervereinshauses eine  Werbeagentur oder noch ein Privatmuseum eines millionenschweren Kunstsammler. Nun aber ist sogar kräftig in die Theaterzukunft investiert worden: Fast drei Millionen Euro haben die Berliner Lottostiftung und der private Eigentümer in das geräumige Backsteingebäude gesteckt, um den Theaterbetrieb für Künstler, Publikum und Nachbarn angenehmer zu machen.
Neue Garderoben und Toiletten, schalldichte Fenster, eine Belüftungsanlage und einen Aufzug gibt es nun, das Minimum an Komfort, aber – o Glück! – keinerlei falschen Glanz. Die schrundigen Wände und Decken durften die Patina eines Jahrhunderts behalten. Man spürt, wie intensiv hier auf dem Hinterhof seit der Kaiserzeit debattiert, gefeiert und Theater gemacht wurde. An den ehrwürdigen Türen zum größten Saal hat man sogar Zeitungsschnipsel aus Honeckers Zeiten kleben gelassen. Und die künstlerische Aufbruchsstimmung, die hier nach dem Mauerfall einzog, ist noch vorstellbar, nein: sogar noch lebendig.
Die neue künstlerische Leiterin Franziska Werner kennt das Haus seit 15 Jahren, hat hier Produktionen und Reihen betreut und will weiter, wie sie sagt, „am Theater der Zukunft arbeiten“. Die Sophiensäle sollen ein Versammlungsort für die Künstler der freien Szene bleiben, ein „offener Möglichkeitsraum“ nicht irgendwo an der Peripherie, sondern in der Mitte der Hauptstadt. Hinter diesem Theatertraum stehen drei namhafte Gesellschafter der Sophiensäle GmbH: Sasha Waltz startete hier ihre internationale Karriere als Choreografin, Jochen Sandig hat mit dem „Radialsystem“ inzwischen ein weiteres Produktionshaus für die freie Szene eröffnet und Amelie Deuflhard leitet nach den Sophiensälen seit 2007 die Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg.
Das Stammkapital des Unternehmens ist seine glänzende Vernetzung in der Szene; den laufenden Betrieb unterstützt der Berliner Senat derzeit mit jährlich 750.000 Euro für Miete, Sachkosten und Personal. Innerhalb dieses Rahmens „bestimmen die Künstler die Struktur, in der produziert wird“, betont Franziska Werner. Darin sei das freie Theater den festen Häusern überlegen: „Die Schauspieler genießen das.“ Doch gleichzeitig beklagt die künstlerische Leiterin das Fehlen eines eigenen Produktionsetats. Für jedes Projekt muss immer erst Geld aus anderen Fördertöpfen beantragt werden. Mal klappt das, mal nicht. Diese Unsicherheit erschwert insbesondere die Kooperation mit anderen Theatern.
Nur gemeinsam aber sind Produktionen zu stemmen wie die hochkarätig besetzte Inszenierung zur Wiedereröffnung, ein dreieinhalbstündiger „Kirschgarten“ der Regisseure Thorsten Lensing und Jan Hein. Beide sind den Sophiensälen seit Jahren eng verbunden. Tschechow nannte sein letztes Stück ein Komödie, entsprechend beherzt wird es hier angepackt: Mit Krach und Schweiß bauen die Schauspieler sich selbst ihr Bühnenbild aus alten Dielen und roten  Hohlblocksteinen, während das Publikum in den Saal einzieht. Unruhig wuseln sie hin und her, schreien sich an, ziehen sich gegenseitig den Stuhl unterm Hintern weg. Kein sachte melancholischer Abschied von der alten Zeit, die der Kirschgarten symbolisiert, wird in dieser Aufführung zelebriert; nein, die Figuren stehen Hochspannung, weil sie in eine neue, ungewisse Epoche gestoßen werden.
Allen voran die bankrotte Gutsbesitzerin Andrejewna (Ursina Lardi), hier ein in die Jahre gekommenes, schillerndes Partygirl, aber auch der fleissige  Immobilienspekulant Lopachin (Devid Striesow), der den Kirschgarten ersteigert und abholzen lässt. Kleinere Rollen wie der Nichtsnutz Semjon (Joachim Król) und der alte Diener Firs (Valentin Jeker) sind ebenfalls prominent besetzt. Maria Hofstätter ist ein drall-komisches Dienstmädchen, dem Schwadroneur Lonja leiht Peter Kurth seine pralle Präsenz. Dass die insgesamt 14-köpfige Truppe einen nicht ganz so feinnervigen Tschechow zeigt wie ein eingespieltes Stadttheaterensemble Ensemble, wen wunderts. In die abgeschabten Sophiensäle passt dieser hemdsärmelige Tschechow-Abend allemal. Nach 15 Jahren sind sie so etwas wie der Kirschgarten der freien Szene in Berlin. „Ein Stück Heimat“, hofft die künstlerische Leiterin Franziska Werner, in einer Umgebung, wo längst die geschäftstüchtigen Lopachins das Sagen haben. Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 13. 12. 2011

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