Translate

Freitag, 21. Oktober 2016

+ultra - eine Ausstellung als "Trainingslager für das Humboldt-Forum"

Von Michael Bienert - "Das ist unser Trainingslager für das Humboldt-Forum", sagt Horst Bredekamp, einer der drei Gründungsintendanten der Kulturinstitution, die das wiederaufgebaute Berliner Schloss bald mit Leben erfüllen soll. Im Martin-Gropius-Bau ist Bredekamp nun mitverantwortlich für die interdisziplinäre Wissenschaftsausstellung +ultra. gestaltung schafft wissen, einer Wunderkammer, die 300.000 Jahre alte Faustkeile mit dem Operationsbesteck von Neurochirurgen, Aufzeichnungen von Charles Darwin und Karl Marx, 3-D-Animationen eines Hundeskeletts in Bewegung mit Videoarbeiten zeitgenössischer Künstler zusammenbringt. Hervorgegangen ist die Ausstellung aus dem Exzellenzcluster "Labor Bild Wissen Gestaltung" der Humboldt-Universität, an dem Wissenschaftler aus 40 Disziplinen mitarbeiten.
Radikal grenzüberschreitendes Denken und Forschen liegt dieser Präsentation zugrunde, und es kann einem schon ein bisschen schwindlig werden, wenn Horst Bredekamp erklärt, es gehe letztlich darum, "den aristotelischen Materiebegriff" zu verändern: "Wir gehen von der Aktivität aus!" Tatsächlich ist dieser Denkansatz aber gar nicht so neu, vor 200 Jahren - zu Zeiten der Humboldts - arbeiteten viele Forscher bereits an der Überwindung eines mechanistischen Weltbildes. Sie versuchten wie Hegel die Materie aus der Bewegung des Geistes zu erklären oder gingen wie Goethe von einer beseelten Natur aus: "Kein Menschen will begreifen, dass die höchste und einzige Operation der Natur und Kunst die Gestaltung sei."
Dieses Goethe-Zitat steht als Leitspruch über der ganzen Ausstellung. "Gestaltung" ist der Begriff, der Natur- und Kulturwissenschaften zusammenführen soll, und so werden in der Ausstellung sehr unterschiedliche Natur- und Kulturphänomene von verschiedenen Perspektiven her belichtet: Der Werkzeuggebrauch, der auch in der Tierwelt zu beobachten ist, organisches Denken in der Architektur oder auf Naturbeobachtungen fußende technische Konstruktionen.
In den letzten drei Ausstellungskapiteln geht es um Themen, die durch die Digitalisierung des Alltags besondere Brisanz gewonnen haben: Die Erfassung von Körperdaten, die Wissenschaftler und Künstler schon immer interessiert hat, jetzt aber zu einem Volkssport und Riesengeschäft geworden ist. Die Künstlerin Jennifer Lyn Morton hat auf diese Kommerzialisierung mit der Gründung einer Firma reagiert, die Daten ihrer Aktivitäten vermarktet. Digitale Gesichtserkennung ist ein weiteres Thema, mit dem wir aktuell als Nutzer von Internetplattformen und videoüberwachten Plätzen konfrontiert sind, das aber ähnlich schon die Physiognomen des 18. Jahrhunderts umgetrieben hat. Zuletzt wirft die Ausstellung einen kritischen Blick auf bildgeleitete Handlungen. Bei medizinischen und militärischen Operationen werden Bilder, auf denen Entscheidungen basieren, immer wichtiger, während ein direkter Kontakt mit dem Ziel des Ein- oder Angriffs vermieden wird.
Der Zusammenhang der präsentierten Objekte und Themen erschließt sich nicht immer gleich auf den  ersten Blick. Die Aktivität der Ausstellungsbesucher ist gefordert, sie werden Teil der Laborsituation, mit der die Kuratoren Nikola Doll, Horst Bredekamp und Wolfgang Schäffner austesten wollen, mit welchen Mitteln eine Wissenschaftsausstellung heute ihr Publikum am besten erreicht. Der größte Ausstellungsraum ist als "active space" konzipiert, in dem fast täglich Begleitveranstaltungen stattfinden, alles bei freiem Eintritt.
"Die Ausstellung im Humboldt-Forum wird aber ganz anders aussehen", versichert Kuratorin Nikola Doll. Auf ähnlich großer Ausstellungsfläche seien dort jährlich drei wechselnde, kleinere Ausstellungen  geplant. Im Martin-Gropius-Bau erkennt man die Richtung, in der es im Humboldt-Forum gehen soll: Vorgeführt wird heutige Wissenschaft als eine Aktivität, die schöpferisch gestaltet, Grenzen überschreitet, Geschichte und Gegenwart zusammenbringt. Darin schwingt ein utopisches Moment mit, das im Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb oft unter die Räder kommt. Genau diese Freiheit des Denkens, Experimentierens und Gestaltens ist es jedoch, die den Begriff "Humboldt-Forum" mit Leben füllen könnte.

Bis 8. Januar 2017 im Martin-Gropius-Bau, Eintritt frei.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen