Translate

Sonntag, 9. November 2014

Im Theater (54): Die Welt ist kaputt. Castorf inszeniert Malaparte an der Volksbühne

"Kaputt": Die Volksbühne am Premierenabend
Von Michael Bienert. Während draußen in der Stadt das 25-jährige Jubiläum des Mauerfalls mit einem heiteren Lichterfest, Menschengedränge und Musik gefeiert wird, rollt am Rosa-Luxemburg-Platz ein Panzer auf die Bühne. Männer in Soldatenkluft schlagen die Zeit mit Gesprächen und der Jagd nach Frauen tot, es sieht sehr nach dem Bürgerkrieg in der Ostukraine aus, doch blendet Volksbühnenchef Frank Castorf in seiner „tour de force européenne“ nach Texten von Curzio Malaparte zurück in die Endphase des Zweiten Weltkrieges. Geschlagene sechs Stunden lang – eine kurze Pause eingerechnet – wird vor allem über unerfreuliche historische Tatsachen geredet: über Pogrome, die Judenvernichtung, über die amerikanischen Soldaten im befreiten Italien, über Kinderprostitution im besetzten Neapel, Trotzkismus, Heinrich Himmler und, im Stadium fortgeschrittener Erschöpfung, auch noch über Mao Tse-Tung. Meist findet der Diskurs in einem an Seilen schaukelnden Container statt, wird aber virtuos als Live-Spielfilm auf eine große LED-Wand über der Drehbühne übertragen. (Leider ist das strahlend helle Bild stark verpixelt, das ist so anstrengend für die Augen als schaue man sich einen sechstündigen Spielfilm auf einem winzigen Fernseher an.) Unter dem Container hat der Bühnenbildner Bert Neumann ein flaches Plantschbecken in die Drehbühne eingelassen, das für ein ein wenig Erfrischung und szenische Abwechslung sorgt, vor allem gegen Ende des überlangen Abends. Er imponiert vor allem durch das Stehvermögen und Nicht-Aufhören-Wollen der Schauspieler: allen voran Jeanne Balibar, die zunächst als Kriegsberichterstatter Malaparte mit angemaltem Bärtchen in einer Uniform steckt, später ihre Weiblichkeit in schönen Kleidern, Schlüpfer und Höschen zeigen darf. So ist es mit den anderen Figuren auch, der anfängliche Schutz durch klar umrissene Rollen löst sich auf, zuletzt sieht man die Schauspieler fast nur noch als plantschende, begehrende, leidende, das Spielen und Geschichtenerzählen nicht sein lassende Kreaturen – in einem düsteren, grauenerregenden Mahlstrom der Geschichte. Ein schwerer, unverdaulicher Brocken, den Castorf auf die Bühne wälzt, ein starkes (in der Tendenz indes erwartbares) Statement gegen den populistischen Geschichtsoptimismus rund um das Mauerfalljubiläum. Wer sich dem aussetzt, sollte gut ausgeschlafen in die Volksbühne gehen oder sicherheitshalber ein Kopfkissen für ein Nickerchen zwischendurch mitnehmen.

„Kaputt“ nach Malaparte, Premiere am 10. November 2014 in der Volksbühne. Regie: Frank Castorf. Mit Jeanne Balibar, Georg Friedrich, Horst Günter Marx, Britta Hammelstein, Patrick Güldenberg, Mex Schlüpfer, Axel Wandtke, Margarita Breitkreiz, Bärbel Bolle, Harald Warmbrunn, Frank Büttner. Zum Spielplan der Volksbühne

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen