Der unbekannte Sitznachbar in Reihe 13 stöhnt: „Hornbach!“ Vorne auf der Bühne hat Prinz Hamlet einen schweren Hammer ergriffen, um seinen königlichen Stiefvater ins Jenseits zu befördern. Dabei hat Hamlet es vor ein paar Sekunden erst richtig krachen lassen und Claudius höchst theatralisch mit Platzpatronen erschossen. Viel zu früh für die Handlung des Stücks, also steht die Figur gleich wieder auf. Nun folgt ein zweiter Versuch mit dem Hammer aus dem Theaterbaumarkt. Vergeblich, leider, denn das hätte den Abend doch erheblich abgekürzt.
Im Programmheft verspricht Regisseur Leander Haußmann „Kaviar, Champagner und Schwarzwälder Kischtorte – alles, nur keine Mehlsuppe mit Trockenbrot“. Wer einen schwachen Magen hat, sollte vorsichtshalber einen Bogen um das Berliner Ensemble machen. Denn der Chefkoch findet es lecker, Hamlets Sein-oder-Nichtsein-Monolog mit reichlich Theaterblut, Gekröse und roher Hirnmasse zu garnieren. Den Text ahnt man allenfalls, dafür ist Prinz Hamlet prächtig damit beschäftigt, seinem Beinahe-Schwiegervater Polonius anatomisch fachkundig die Eingeweide aus dem Leib zu schneiden. Vermutlich sucht Hamlet dort nach dem Kaviar, doch es kommt nur Gummi zutage.
Der Schauspieler Christoph Nell, der in dieser grob zusammengezimmerten Inszenierung den Hamlet spielt, kann einem echt leid tun. Dass Nell kein schlechter Schauspieler ist, war zuletzt in Robert Wilsons „Peter Pan“-Inszenierung am Berliner Ensemble zu sehen. Als irrlichternde Märchengestalt Tinker Bell setzte ihr Nell das größte schaupielerische Glanzlicht auf. Unter Haussmanns Führung aber hat man den der Eindruck, die Hamlet-Rolle sei viel zu groß für den eher schmächtigen Körperbau des Schauspielers - und mehr noch für seine Fähigkeiten als Sprecher. Nells Flucht in den körperlichen Aktionismus passt zwar perfekt in die ruhelose Geschäftigkeit der Inszenierung. Doch seinem Hamlet fehlt jede Ausstrahlung, die dem haltlosen Treiben ein Zentrum oder einen Sinnzusammenhang geben könnte.
Sieht dieser Hamlet wie eine Fehlbesetzung aus, so wirken alle anderen Personen wie bloße Nebenfiguren. König Claudius (Roman Kaminski) ist kein Getriebener, nur ein geiler, alter Bösewicht. Mit Traute Hoess als der Ehebrecherin und Hamlets Mutter Gertrud hätte Haußmann eine Schauspielerin, die das Hin- und Hergerissensein zwischen Claudius und Hamlet, zwischen Sinnlichkeit und Mutterliebe ausloten könnte – wenn sie es denn dürfte. Als korpulente Lebedame im roten Kleid irrt sie durch die Aufführung. Unschuldsweiß wie eine Märchenprinzessin kommt Ophelia (Anna Graenzer) daher, unter ihrer Püppchenverkleidung blitzt zwar ein bisschen Teenagereigensinn hervor, das macht sie sympathisch – aber auch ihr fehlt die Fallhöhe zum finalen Wahnsinn. Ob Polonius (Norbert Stöß), Laertes (Felix Tittel), Horatio (Luca Schaub), der Geist (Joachim Nimtz), Rosenkranz und Güldenstern (Peter Miklusz und Georgios Tsivanoglou) sie alle bleiben Chargen in einem Stück, das die Schauspieler doch so sehr lieben, weil es darin keine bloßen Nebenrollen gibt. Eine Ahnung von diesem Reichtum des Stücks gibt ein Kurzauftritt des unzerstörbaren Martin Seifert als Totengräber. Ein kurzes Atemholen in der permanenten Kurzatmigkeit der dreieinhalbstündigen Aufführung.
Fast die ganze Zeit rotiert die Drehbühne, auf die der Bühnenbildner Johannes Schütz bewegliche Wandelemente mit Durchgängen und Fenstern gestellt hat: ein permanent sich veränderndes Labyrinth, das die Figuren in äußerer Bewegung hält. Die Regie nutzt diese kluge Raumlösung exzessiv, um von zu Szene zu Szene zu huschen, ohne der Aufführung einen Rhythmus zu geben. Stille Momente oder Pausen fehlen fast völlig. Raum zum Nachfühlen oder Nachdenken lässt die Hamletshow dem Zuschauer nicht. Stets sind die zwei als Engel kostümierten Musiker des Folkduos „Apples in Space“ mit Gitarre, Quetschkommode und Gesang zur Stelle, um jede mögliche Schärfe aus dem Drama zu nehmen. Sie spülen die Grobschlächtigkeit der Inszenierung mit Dylansongs wie „Shot of Love“ und „Death is not the end“ weich. Das ist die Kirschsoße auf dem falschen Kaviar.
Was ist faul im Berliner Ensemble? Selbstverständlich lastet ein Wahnsinnsdruck auf jedem Regisseur, der das Stück der Stücke auf die Bühne bringen will. Zumal in Berlin, wo man in den letzten 25 Jahren einen Ulrich Mühe und eine Angela Winkler und zuletzt beim Theatertreffen 2008 Joachim Meyerhoff in der Hamlet-Rolle hat leuchten sehen. Haußmanns Strategie ist simpel: Augen zu und durch! „Hamlet“ sei auch nur ein Theaterstück, mit dem alle ihren Spaß haben sollten wie mit einer schönen Hure, so beschreibt der Regisseur seine Einstellung zu dem Drama. Kein Wunder, wenn das Objekt seiner Begierde sich diesem Hallodri verschließt! Und was nützt die fetzigste Fecht- und Kampfszene zum Schluss, wenn dem Zuschauer längst völlig gleichgültig ist, wer da aufeinander eindrischt? Der Spaß ist anderswo.
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 26. November 2013
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