Von Elke Linda Buchholz - Wo ist die legendäre Pelztasse? Meret Oppenheims
berühmtester Coup fehlt in der großen Retrospektive zum 100. Geburtstag. Ihr
selbst wäre das vielleicht ganz recht gewesen. Dass alle Welt ihren Namen noch
Jahrzehnte später immer nur auf dieses eine geniale Unikat reduzierte, nervte
die Künstlerin. Beharrlich weigerte sie sich, die Pelztasse als Multiple
herauszugeben.
Als Alfred Barr das mit chinesischem Gazellenfell gefütterte
Frühstücksset 1936 in einer Pariser Galerie entdeckte, verfrachtete er es
sofort ins Museum of Modern Art in New York. Das haarige Ambivalenzobjekt, das hinterlistig
mit Berührungslust und Ekel des Betrachters spielt, wurde zu einer Ikone des
Surrealismus. Aus einem Augenblickseinfall im Café geboren, verkörperte das
Objekt der 23jährigen Künstlerin perfekt die surrealistischen Methode, Zufall
und Unterbewusstes als Ideenquell anzuzapfen.
Neugierig und offen testet die Künstlerin unzählige
Materialien und Techniken und scherte sich nicht im geringsten um die Wiedererkennbarkeit
ihres Oeuvres. Fast scheint es, als fürchte sie sich davor, auf eine einzige
Identität reduziert zu werden. Sie befasst sich mit der mythischen Genoveva,
zeichnet sich als 25jährige mit dem Antlitz einer Greisin, tuscht sich lächelnd
als Kentaur aufs Blatt und posiert als Schamanin mit aufgemalter
Gesichtstätovierung. Sie lässt einen weiblichen Würgeengel mit totem Kind im
Arm auftreten oder erstellt ein Selbstbildnis per Röntgenbild: bis auf die Knochen
durchleuchtet samt extravagantem Ohrring und Fingerschmuck.
Ihre Auseinandersetzung mit den romantischen Dichterinnen Karoline
von Günderode und Bettine von Arnim mündet 1983 in ein großformatiges abstraktes
Bilderpaar, das am Beginn der Ausstellung steht. Große, scharfgeschnittene
Farbquadrate schweben darin über nebligen Wassern und scheinen die Klarheit des
Geistes ebenso wie das Zwischenreich des nicht rational Ergründbaren zu
veranschaulichen. Ein schwarzes Boot deutet den Aufbruch ins Ungewisse an. Immer
wieder suchte Oppenheim das Archaische, das Mythische, findet sich darin durch
C. G. Jungs psychoanalytische Theorien bestätigt. Dessen Schriften wurden
bereits in ihrem Elternhaus diskutiert. Viele ihrer Werke gründen in Traumerlebnissen.
Ganz bewusst, denn: "Es sind die Künstler, die träumen für die
Gesellschaft."
1928 beginnt sie ein Traumtagebuch zu führen, das sie bis zu
ihrem Tod fortschreibt. Auszüge daraus und aus ihren Gedichten sind in die
thematisch geordnete Ausstellung zwischen Gemälde, Zeichnungen, Objekte und
Skulpturen eingestreut: Gleichberechtige Splitter aus Oppenheims kreativem
Kosmos. Schon an ihrer Wiege stand die Literatur Pate. Ihren Namen leiteten die
Eltern aus Gottfried Kellers Roman "Der Grüne Heinrich" ab. Darin ist
das schöne "Meretlein" ein unbezähmbares Kind, dass man für eine Hexe
hält. Auch die in der Schweiz aufgewachsene Meret Oppenheim schert schon als
Kind aus braven Regularien aus. In ein Schulheft notiert sie die absurde
Gleichung "x = Hase". Mit 15 Jahren steht fest, dass sie Künstlerin
werden will. Mit 18 geht sie nach Paris und kommt über Alberto Giacometti und
Hans Arp mit den Surrealisten in Kontakt. Unbefangen lässt sie sich von Man Ray
nackt an der Druckerpresse fotografieren: Eines ihrer berühmtesten Porträts
entsteht, das in der Surrealisten-Zeitschrift "Minotaure" publiziert
wird. Die surrealistische Venus weist provokant ihre mit Druckerschwärze
beschmierte Hand vor und signalisiert so: Wen ich umarme, auf dessen Leib hinterlasse
ich Spuren.
Eine stürmische Affäre mit Max Ernst beendet Meret Oppenheim
1935 nach einem Jahr abrupt. Er dichtete kurz darauf zu ihrer Soloausstellung: "Wer
überzieht die Suppenlöffel mit kostbarem Pelzwerk? Das Meretlein. Wer ist uns
über den Kopf gewachsen? Das Meretlein." Die Verniedlichung passte ihr
natürlich gar nicht. Jahre später revanchierte sie sich, indem sie ein Collagemotiv,
die sie ihrem Lover 1934 gewidmet hatte, als Schmuckstück in Gold und
Edelsteinen ausführen ließ. Ihr Titel: "Husch, husch, der schönste Vokal
entleert sich."
Ein ganzer Raum ist Oppenheims lustvollem Crossover zwischen
Mode und Kunst gewidmet. Hier sind einige ihrer schönsten Arbeiten versammelt.
Zum Broterwerb hatte sie in Paris für die Modedesignerin Elsa Schiaparelli ihre
ersten eigenwilligen Entwürfe gezeichnet. Ein Handschuhpaar aus weichem Leder
kehrt das Geflecht der Blutadern nach außen. Ein Schmuckentwurf legt ein
winziges Ei ins goldene Nest und platziert das miniaturfeine Ensemble in der
Ohrmuschel der Trägerin. Ein Armband aus zierlichen Knochengliedern klirrt als
elegantes Memento Mori an der Hand. Geradezu perfide verkörpern zwei an den
Spitzen zusammengewachsene Lederstiefeletten die Ambivalenzen der Liebe. Sie
verschmelzen in einem innigen Kuss und sind fortan bewegungsunfähig
aneinandergefesselt. Kein Schritt mehr voran.
Als Meret Oppenheim in den 70er Jahren wiederentdeckt wird,
wirkt sie auf einmal wie die Grande Dame aktueller Genderdebatten. Sie tritt
mit einer kämpferischen Rede zur Gleichberechtigung der Frau in der Kunst
hervor, lässt sich von der feministischen Videokünstlerin Valie Export interviewen.
Aber gegen die Idee einer weibliche Ästhetik verwahrt sie sich entschieden. Große
Kunst, so betont sie, habe keine Geschlechtsmerkmale.
Martin-Gropius-Bau, bis 1.12.2013, Mi-Mo 10-19 Uhr, Di
geschlossen,
Online-Tickets unter www.gropiusbau.de
Der Katalog Meret Oppenheim. Retrospektive ist im
Hatje Cantz Verlag erschienen und kostet im Museum 25 €, im Buchhandel 39,80 €.
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 26. August 2013
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