Zwar ließen Wind und Witterung von der aus Lehmziegeln erbauten Metropole, in der im 4. Jahrtausend vor Christus 40.000 Menschen lebten, nur die Fundamente übrig. Aber das reicht den Forschern, um ein Sozial- und Wirtschaftsgefüge zu rekonstruieren, das verblüffende Ähnlichkeit mit den Organisationsformen einer modernen urbanen Zivilisation hat. In Uruk gab es eine hochentwickelte Verwaltung, Arbeitsteilung, Massenproduktion, repräsentative Regierungsbauten und religiöse Zentren.
Vor zwei Monaten war Margarete van Ess, Leiterin der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts, zum letzten Mal vor Ort. Ihre Fotos zeigen eine verlassene Wüstensteppe, in der sich nur vage die Überreste der einstigen Großbauten ausmachen lassen. Um die fragilen Lehmziegelruinen zu schützen, haben die Archäologen die zuvor freigelegten Baureste absichtlich wieder mit Erde zugedeckt. Der Ausbruch des Iran-Irak-Krieg 1980 unterbrach die zuvor fast jährlich stattfindenden Grabungskampagnen. Seit 2002 ruhen die Arbeiten ganz.
Stattdessen versucht man durch geophysikalische Messungen und hochauflösende Satellitenbilder der komplizierten Bebauungsgeschichte Uruks beizukommen. Nicht einmal fünf Prozent der Stadtfläche sind bislang archäologisch erforscht. Wann und ob die Grabungen weitergehen können, hängt auch von den jüngsten Wahlen im Irak ab. Anfangs waren die deutschen Archäologen der Kaiserzeit skeptisch, ob sich ein Engagement in Uruk überhaupt lohnen würde. Vielversprechender erschien Robert Koldewey das 200 Kilometer nördlich gelegene Babylon. Dort grub er das monumentale Ischtartor aus, dessen blauglasierte Pracht er im Pergamonmuseum wiedererstehen ließ. Die 49.000 inventarisierten Fundstücke aus dem viel älteren Uruk dagegen sind kleinteilig: Zierliche Rollsiegel, Relieffragmente und 13.000 Tontäfelchen mit Keilschrifttexten. Sie bilden die eigentliche Sensation und belegen: In Uruk wurde um 3300 vor Christus die Schrift erfunden.
In der Ausstellung sieht man, wie die Schreibschüler vor 5000 Jahren ihre ersten ungelenken Zeichen mit dem kantigen Schilfrohrgriffel in den weichen Ton drückten, bevor sie die senkrecht, schräg und waagerecht angeordneten Keile perfekt beherrschten. Die Profischreiber notierten Bierrezepte und astrologische Beobachtungen, Beschwörungsformeln und Lohnabrechnungen für die Bauarbeiter, die die neun Kilometer lange Stadtmauer von Uruk aus der Erde stampften. Zwei Millionen Arbeitsstunden, so haben die Kuratoren ausgerechnet, dürften für das Mammutbauprojekt der ringförmigen Verteidigungsmauer nötig gewesen sein. Per Satellitenaufnahme ist sie noch heute aus dem Weltraum zu sehen.
Der mythische Held Gilgamesch soll die Mauer errichtet haben. Eine fünf Meter hohe Skulpturenkopie (nach einem Original im Louvre) vermittelt gleich zu Beginn einen Eindruck von der Größe des Helden. Die Locken symmetrisch gescheitelt, die Füße in aktiver Schrittstellung zur Seite gewandt, lächelt er hintersinnig. Scheinbar mühelos bändigt er mit bloßer Hand einen Löwen: Dieser Krieger und König wirkt unbesiegbar. Entlang der Erzählung des Epos führt die Ausstellung den Besucher in die Stadt Gilgameschs ein. Miniaturhafte Rollsiegel und Terrakottareliefs erzählen vom brutalen Kampf Gilgameschs mit dem Dämonen Humbaba und seiner wütenden Attacke auf den Himmelsstier. Wenn der Held mit seinem Gefährten Enkidu auszieht, um kostbares Zedernholz als Baumaterial für die Tempel seiner Stadt zu erringen, dann ist diese mythische Erzählung für die Archäologen kein bloßes Phantasiegespinst. Holz war im Zweistromland rar und Funde belegen, dass man in Uruk tatsächlich Importware aus fernen Regionen verbaute.
Wie mit den Augen eines Landmessers erfasst das Gilgamesch-Epos die Topographie Uruks: "Eine ganze Quadratmeile ist Stadt, eine ganze Quadratmeile Gartenland, eine ganze Quadratmeile ist Aue, eine ganze Quadratmeile der Tempel der Ischtar. Drei Quadratmeilen und eine halbe, das ist Uruk!" Für heutige Augen vorstellbar wird die Anatomie der Stadt durch großformatige Computersimulationen, die mit Hilfe des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt erstellt wurden. Wie mit dem Hubschrauber fliegt man über ein von Wasserläufen durchzogenes Terrain, aus dem die Großbauten wie von Zauberhand hervorwachsen: verschachtelte Wohnviertel, mächtige Hallenbauten und als beherrschendes religiöses Zentrum die große Zikkurat, ein auf hohen Terrassen errichteter Stufentempel der Stadtgöttin Göttin Inanna.
"Alles handfeste wissenschaftliche Arbeit, kein Disneyland!" betont Alfried Wieczorek, Direktor der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen. Sein Haus tritt als Kooperationspartner auf und zeigt die Ausstellung im Anschluss. Rekonstruktionen waren für die Archäologen auch früher schon gängiges Hilfsmittel, um ihre Thesen auf Glaubwürdigkeit zu testen und für Laien zu vermitteln. In den Zwanziger Jahren ließ der Direktor des Vorderasiatischen Museums in Berlin, Walter Andrae, eine ganze Gebäudewand aus Uruk im Museum aufmauern: Daran lässt sich bis heute wunderbar anschaulich studieren, wie die altorientalischen Baumeister runde, farbige Tonstifte dicht an dicht in den Putz drückten und so großflächige Ornamentmosaiken schufen. Nach Mannheim werden diese fest eingebauten Architekturen nicht mitreisen können. Aber dafür kann sich die in Berlin arg gedrängt wirkende Schau an ihrer zweiten Station auf fast dreimal so großer Fläche ausbreiten, mit denselben Exponaten.
INFOS Bis 8. September in Berlin (Mo-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr). Ab 20. Oktober bis 21. April 2014 in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim. Das Begleitbuch zur Ausstellung listet nicht sämtliche Exponate auf, sondern behandelt das Thema Uruk umfassend in 66 Essays von zahlreichen Fachautoren (Michael Imhof Verlag).
Mehr unter http://www.uruk-megacity.de/
Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 27. April 2013
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