Von Michael Bienert - Lieber tot als erwachsen! Das ist das Lebensmotto von Peter Pan, dem ewigen Kind. Von der Mutter enttäuscht, flüchtet er in eine Traumwelt, bevölkert von wilden Jungs, Indianern, Piraten und Nixen. Sein Neverland, erfunden von dem kleinwüchsigen Schriftsteller James Matthew Barnie vor gut hundert Jahren, ist in der angelsächsischen Welt zu einem Mythos der Popkultur geworden. Vielfach verfilmt von Walt Disney bis Steven Spielberg, besungen von Kate Bush bis zum Deutschrapper Fard, gipfelte die Peter-Pan-Verehrung in der Selbststilisierung des „King of Pop“ Michael Jackson. Durch Schönheitsoperationen wollte er jung bleiben und auf seiner Ranch „Neverland“ am liebsten mit kleinen Jungs spielen – bis zum traurigen Ende.
Neverland ist ein idealer Stoff für Robert Wilson, den Ingenieur surrealer und manchmal magischer Theaterbildermaschinen, der mit seinen 71 Jahren des Spielens immer noch nicht müde ist. Seiner Inszenierung am Berliner Ensemble liegt James Matthew Barries eigenes „Peter Pan“-Drama in einer Übersetzung Erich Kästners zugrunde, dazu hat er von CocoRosie – so der Künstlername des Musikerinnenduos Bianca und Sierra Cassady – neue Songs schreiben lassen. Eine eingängige und abwechslungreiche Bühnenmusik zwischen Klassik, Folk und Ethnopop, die ziemlich laut nach Konserve klingt, aber tatsächlich live von einem Miniorchester gespielt wird.
Wie schon bei Wilsons Inszenierungen der letzten Jahre verwandelt sich das Berliner Ensemble in eine munter groovende Musicalbühne für Schwerhörige, bevölkert von grotesken Gestalten mit meist kreideweiß geschminkten Gesichtern, eingekleidet in schwarzen Kostümsilhouetten von Jacques Reynaud. Oft wirkt das austauschbar und beliebig, so wenn Wilson sein Personal wieder mal von rechts von links vorm Vorhang vorbei stolpern, tänzeln und grimmassieren lässt, um Umbauzeiten zu überbrücken. Zwei Figuren ragen aus dem Gezappel des vielköpfigen Ensemble heraus: Christoph Nell als hypernervös mit dem Kopf ruckelnder Schutzengel Tinkerbell und Martin Scheider unter einer grimmigen Krokodilmaske mit orange leuchtenden Augen. Sie wirken taufrisch und wie eigens erfunden fürs Neverland, während das übrige Personal aus dem reichen Depot des Wilsontheaters herbeizitiert scheint.
Wobei dieses leicht Abgestandene durchaus zur melancholischen Lesart des Peter-Pan-Mythos passt. Die Titelfigur ist hier längst über das Jungenalter hinausgeschossen und ihr Beharren auf dem Kindsein eher Ausdruck tiefer Hilflosigkeit. Sabin Tambrea als Pater Pan steckt groß und schlank in einer zu engen Lederjacke, wirkt mehr kindisch als kindlich: Michael Jackson lässt grüßen! Wendy (Anna Graenzer), die er mit ihren Brüdern aus dem Bett nach Neverland holt, ist ungefähr halb so groß wie Peter, doch sie soll ihm und den anderen verlorenen Jungs die Mutter ersetzen. Wie eine Puppe mit übergroßen Augen steckt Wendy in einem unschuldig weißen Kleidchen. Darunter regt sich schon erotisches Begehren, was den Rühr-mich-nicht-an Peter Pan in Panik versetzt.
Peter-Pan-Syndrom taufte der amerikanische Familientherapeut Dan Kiley solch ein Verhaltensmuster von Männern, die nicht erwachsen werden wollen. Robert Wilsons Inszenierung ist mehr eine Reise ins Dunkel psychologischer Abgründe als in eine tröstende Märchenwelt. Düstere Fantasien und Aggressionen kommen im Dämmerlicht zum Vorschein, verkörpert vor allem durch den finsteren Käptn Hook und seine Piratenbande. Der will Peter „zum Mann machen“ und hat vermutlich bei einem früheren Versuch einen Arm verloren. Stefan Kurts Piratenboss ist ein trauriger Bösewicht, mit dem man durchaus Mitleid haben kann. Sonst bleiben die Gefühle beim Betrachten dieses tiefenpsychologischen Gruselkabinetts außen vor.
Nach zweieinhalb Stunden sind alle Kinder, außer dem renitenten Peter Pan, wieder wohlbehalten zuhause, wo eine matronenhafte Mama (Traute Hoess) sie erleichtert empfängt. Neverland ist eben doch keine wirkliche Alternative zum Elternhaus und zur Schule, die Transiträume ins Erwachsensein. Doch es kann helfen, ab und zu in die Welt der Träume, Märchen und des Theaters einzutauchen, um sich besser kennen zu lernen. Wer aber den Rückweg nicht findet wie Peter Pan oder Michael Jackson, auf den wartet nicht ewige Kindheit, sondern auch nur der Tod.
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Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 29. April 2013
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