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Samstag, 18. August 2012

Im Theater (36): Seefestspiele mit "Carmen" am Wannsee


Hatte in diesem feuchtkalten Berliner Sommer überhaupt jemand Lust, ins Freibad zu gehen? Die Oper machts möglich: Jeden Abend bilden sich jetzt lange Schlangen vor dem Strandbad Wannsee. Berlin spielt Bregenz, doch so ganz will das auch im zweiten Jahr nicht klappen. Anders als bei den Opernaufführungen auf dem Bodensee gibt es am Wannsee keine vom Wasser umflutete Bühne. Letztes Jahr mussten die Veranstalter ihr „Zauberflöten“-Spektakel wegen Protesten von Naturschützern kurzfristig von Potsdam nach Berlin verlegen, auch diesmal klagen sie über Auflagen der Berliner Umweltbehörde und wollen sich nächstes Jahr eine andere Stadt mit See suchen. Die Bühne steht auf einer Böschung hoch über dem Ufer, das Publikum schaut in Richtung Sonnenuntergang, doch den Seeblick hat der Bühnenbildner Volker Hintermeier durch einen riesigen Damenfächer mit der Leuchtschrift „Cigares“ verstellt, damit der Doofste erkennt: „Carmen“ spielt in Spanien.

Regisseur Volker Schlöndorff aktualisiert die Story behutsam. Die Soldaten stecken in schickem Khaki, die umworbene Zigeunerin Carmen haust in einem Sechziger-Jahre-Wohnwagen, und bei der Ware der Schmuggler im 3. Akt handelt es sich um heutige Armutsflüchtlinge in einem Schiffscontainer. Alles nur Dekor für ein dreistündiges Wunschkonzert mit vertrauten „Carmen“-Hits, lausig choreographierter rhythmischer Gymnastik, einigen Jonglierkunststücken und viel künstlichem Qualm im Abenddämmer. 
Dass die Kunst bei diesem Event eine Nebenrolle spielt, ist spätestens in der Premierenpause klar. Die Unterbrechung dauert doppelt so lang wie angekündigt, weil die von den Sponsoren eingeladenen Gäste den exklusiven VIP-Bereich mit Freibuffet   nicht räumen. Als sie ihre Plätze wieder einnnehmen, empfängt sie das fröstelnde zahlende Publikum mit Pfiffen und „Unverschämtheit!“-Rufen.
Die von Judith Kubitz dirigierte Kammerakademie Potsdam musiziert in einem Halbkugelzelt neben den Lautsprechertürmen. Was aus den Boxen dringt, ist ein synthetischer Mix von dem, was im Zelt passiert und was die Mikroports von den Sängern auf der Bühne einfangen. Klingt wie gutes Playback, weniger wie Oper live. Die Sänger wirken angespannt in der ungewohnten Situation, fast allein die Carmen der Premierenbesetzung (Julia Rutigiliano) verbreitet Glanz mit ihrer Stimme. Diese Carmen ist kein weiblicher Dämon, sondern eine leicht korpulente, dabei überraschend bewegliche Frau aus dem Volk, die lässig und souverän ihre erotische Ausstrahlung einsetzt. Ihr Liebhaber Don José (Hans Georg Priese) zerbricht eher an seiner eigenen Schwäche und Spießigkeit als an Carmens Einzigartigkeit. Seine verschmähte Braut Micaela (Viktorija Kaminskaite) ist in diesem Tableau die wirklich leidenschaftlich Liebende und Leidende.
Etwas Frischluft kann „Carmen“ sicher nicht schaden, werden sich alle Beteiligten gedacht haben, doch das Resultat ist nicht bessere Kunst, sondern bloß ein Kunstprodukt für die Massenunterhaltung im Freien. Das rechnet sich, weil alle drei städtischen Opernhäuser im Juli und August gleichzeitig geschlossen sind. Würde die Kulturpolitik daran endlich etwas ändern, müsste Berlin nicht länger kopieren, was Bregenz besser kann.

Aufführungen noch bis 2. September, Informationen und Tickets unter http://seefestspiele-berlin.de


ERSTDRUCK: Stuttgarter Zeitung vom 18. August 2012

1 Kommentar:

  1. Ich, als Besucher am 24.8.2012, konnte die Oper in vollen Zügen genießen! Eine von Theatergrenzen befreite Oper, mit herrlichen, nuancenreichen Stimmen sowohl in den Haupt- als auch in den Nebenrollen, die zudem dank hervorragender Technik bestens zu verstehen waren. Die oft kurzweilige, mitunter aber auch sehr sensible Inszenierung war stets eine passende Ergänzung zu der herrlichen, allbekannten Musik. Wer sich und Freunden noch einen wunderschönen Abend gönnen möchte, dem kann ich die „Carmen“ (bis 2.9.!) nur empfehlen! Am 1.9. bin ich nochmals dabei! H.W.

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