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Freitag, 1. Juli 2011

Im Theater (23): Die Spanische Fliege

Die Spanische Fliege ist ein grün schillernder Käfer, der getrocknet und zerrieben als Potenzmittel genossen wird. Dabei ist allerdings Vorsicht geboten, denn bereits 0,03 Gramm des Wirkstoffs Cantharidin können für einen Menschen tödlich sein. Als Erektionsmittel wirksam ist die Spanische Fliege nur knapp unterhalb der lebensgefährlichen Dosis, deshalb greifen Männer heute lieber zu synthetischen Wirkstoffen wie Viagra. Laut Programmzettel hat ein Pharmahersteller die Volksbühne gewarnt: „Wenn Sie wirklich Spanische Fliege unter Ihren Zuschauern verteilen, dann müssen Sie mit Dutzenden von Toten rechnen!!!”
Länger schon als eine Spielzeit leidet Frank Castorfs Volksbühne unter einem erschreckenden Verfall der künstlerischen Potenz. Sie ist bei Weitem nicht mehr so sexy wir früher und bringt kaum noch berichtenswerte Aufführungen zustande. Die Idee, dem Publikum Spanische Fliege zu verabreichen, war also gar nicht so abwegig. Und wirklich, es hat funktioniert. Am Mittwoch feierten Ensemble und Publikum einen richtig lustigen, furiosen Theaterabend - wie in guten Zeiten. Herbert Fritsch (Foto) hat die Boulevardklamotte „Die Spanische Fliege” inszeniert, mit der das Autorenduo Franz Arnold und Ernst Bach 1913 zum Siegeszug auf dem Boulevard ansetzte. Bis heute haben sich ihre Schwänke als Rettungsringe bewährt, wenn die Dramaturgieabteilung eines Theaters den Kompass verloren hat.
Vor zwei Jahren probierte es der Volksbühnenintendant Frank Castorf schon mal selber, in der Ausweichspielstätte Prater inszenierte er „Amanullah, Amanullah” frei nach „Hulla di Bullah” von Arnold und Bach, eine Komödie um einen afghanischen Potentaten auf Staatsbesuch in Berlin. Drei Stunden rackerten sich seine Schauspieler ab, zurück blieb ein Gefühl von Erschöpfung. Merken die Theaterzuschauer zu viel Anstrengung, ist das tödlich für jede Klamotte.
Der Schauspieler Herbert Fritsch, lange Jahre ein Energiezentrum von Castorf-Inszenierungen, hat nun das richtige Timing gefunden. Als Regisseur der „Spanischen Fliege” setzt auch er auf Tempo, ständigen Aktionismus und aberwitzige Überdrehtheit, doch das schweißtreibende Spektakel fühlt sich wunderbar leichtfüßig an.
Seinen Schauspielern breitet Fritsch einen Perserteppich aus, der bis zur Rückwand des großen Bühnenhauses reicht, wo er mannshohe Falten wirft. Wie hinter Dünen tauchen die Figuren daraus auf, benutzen die Teppichwellen als Versteck und Rutschbahn, schlagen tolle Salti auf zwei darunter versteckten Trampolinen. Es sind Bürger, denen die Bodenhaftung abhandengekommen ist, die gern über die Stränge schlagen und dennoch den Anschein gesetzter Wohlanständigkeit wahren wollen. Dabei verheddern sie sich immer auswegloser in ihrer Doppelmoral.
Als Vorsitzende des örtlichen Mutterschutzvereins amtiert die Hausherrin Emma Klinke (Sophie Rois), eingeklemmt in ein gelbes Kleid und geschmückt mit einer himmelhoch auftoupierten Frisur. Sie findet es empörend, dass ihre Tochter Paula (Mandy Rudski) ein Verhältnis mit dem stadtbekannten Lebemann Fritz Gerlach (Christoph Letkowski) angefangen hat. Deshalb will die Mama das Kind flugs mit dem braven Sohn einer Freundin verloben. Um Paula zu helfen, nimmt ihre Cousine Wally den Wunschbräutigam Heinrich Meisel (Bastian Reiber) in Empfang, als er im Hause Klinke auftaucht, und verdreht dem unerfahrenen Jungen den Kopf. Fritz Gerlach versucht die Heirat mit Paula zu erzwingen, indem er ihren Vater (Wolfram Koch) erpresst. Der Mostrichfabrikant Ludwig Klinke hatte vor vielen Jahren eine Affäre mit einer Tänzerin, genannt „Spanische Fliege”. Sie verlangte von ihm, wie von anderen Männern der Familie, Unterhaltungszahlungen für ein uneheliches Kind, wovon die Hausherrin nichts wissen darf.
Der gewiefte Anwalt Gerlach schürt das Missverständnis, dass es sich bei dem Brautwerber Meisel um den unehelichen Sohn handelt - und so nimmt die bizarre Verwechslungskomödie ihren Lauf. Bis endlich sämtliche übrigen männlichen Familienmitglieder (Hans Schenker, Werner Eng, Christoph Letkowski, Harald Warmbrunn, Stefan Staudinger) im Verdacht stehen, intim mit der „Spanischen Fliege” gewesen zu sein. Herrlich unverschämt stellt die Klamotte die bigotte Sexualmoral des wohlanständigen Bürgertums bloß.
Schon in seiner zum letzten Theatertreffen eingeladenenen „Nora”-Inszenierung verwandelt Fritsch eine bürgerliche Villa in ein groteskes Puppenheim. So auch jetzt: Das Personal steckt in knallbunten Kostümen (Victoria Behr) und grimassiert wie in einem alten Stummfilm, mit großer Gestik und grandiosen Slapsticks. Der Regisseur Fritsch entfesselt ein pausenloses Feuerwerk von Bewegungen, die im kopfgesteuerten Theaterbetrieb selten geworden, ja verpönt sind. Statt Gedanken inszeniert er kindliche Spielfreude und Artistik. Sein Theater soll nicht klug sein müssen, es darf total albern sein, bloß nicht zäh. Es soll absolut eigensinnig das sein, was es ist, eben Theater. Diese Haltung ist mehr als klug, sie ist weise.
Ganz ähnlich muss es auf dem Theater zugegangen sein, ehe Autoren, Dramaturgen und Regisseure ihm alle möglichen Zusatzaufgaben aufbürdeten. Bei Fritsch nähert es sich wieder der Schaustellerei an. Es passt ins Bild, dass er als vorletzte Attraktion eine kleinwüchsige Schauspielerin (Christine Urspruch) im schwarzen Rüschenkleid als „Spanische Fliege” auftreten lässt - ein bezaubernd schräger Auftritt. Beim Schlussapplaus schwebt der Regisseur selbst an einem Seil über die Bühne, fröhlich winkend: Seht her, die Spanische Fliege, das bin ich! - Aber Achtung, dieses Potenzmittel kann süchtig machen! - Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 1. Juli 2011

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