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Montag, 30. September 2019

Das Erbe der Diktaturen - Ines Geipels "Umkämpfte Zone"

Von Michael Bienert. Ines Geipel trägt als Autorin ein schweres Gepäck. Beide Großväter waren tief in Naziverbrechen verstrickt, der Vater arbeitete als Agent für die DDR-Staatsicherheit und tobte seine Aggressionen an den eigenen Kindern aus. 
Die Tochter wurde berühmt als DDR-Topsprinterin, ohne ihr Wissen mit Dopingmitteln vollgepumpt und von der Stasi brutal aus dem Spiel genommen, als sie sich in einen Athleten aus dem Westen verliebte. Kurz vor dem Mauerfall floh sie über Ungarn in die Bundesrepublik, wurde Schriftstellerin und Professorin für Verslehre an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin. Mit Joachim Walther sammelte Ines Geipel Texte von in der DDR mundtot gemachten Autoren in einem Archiv für unterdrückte Literatur, dafür wurde sie 2011 mit dem Antiquaria-Preis geehrt. 
Dem Verschwiegenen eine Stimme geben, dieses Motiv zieht sich auch durch ihr neues Buch. Auslöser war der Krebstod des jüngeren Bruders. Berührend schildert die Autorin, was die Geschwister so eng aneinander band. Als Kinder gaben sie sich gegenseitig Halt in der stummen Gewaltatmosphäre der Familie: „Was nicht greifbar sein sollte, was wir sichern mussten, brachten wir beim andern unter. Dort war es geschützt und konnte überdauern.“ Umso schmerzhafter war der Abschied vor dem Bruder, der geholfen hatte, dem familiären Anpassungsdruck zu widerstehen. 
Ines Geipel malt den Familienterror nicht aus. Sie bettet ihn in einen weiten geschichtlichen Kontext ein. Sie deckt die Schuldverstrickung der Großelterngeneration auf, die in der DDR weitgehend unaufgearbeitet blieb. Es gab zwar einen staatlich verordneten Antifaschismus und Erinnerungsrituale, doch in den Familien wurden die konkreten Charakterdeformationen durch die NS-Diktatur beschwiegen und unter der kommunistischen Parteiherrschaft zementiert. Dreißig Jahre nach dem Untergang des SED-Staates zeigt sich das in einer explosiven Mischung aus Geschichtsverleugnung und Radikalisierung, die vom Osten ausgehend das gesamte politische System der Bundesrepublik erschüttert. 
Ines Geipel nutzt die eigene Familiengeschichte als Schlüssel für das Unerzählte, das politisch derart mächtig geworden ist. Eine wagemutige Konstruktion. Doch sie erweist sich als belastbar. Aus schwerem Gepäck wird eine erhellende Erzählung. 

Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. 
Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 280 Seiten, 20 Euro

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