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Mittwoch, 7. November 2018

Das geheime Leben der Dinge. Wie im ethnologischen Museum in Dahlem Indigene mit Ethnologen zusammenarbeiten

Orlando Fontes (links) und ein Kollege im Depot des
Ethnologischen Museums in Dahlem.
Foto: SPK/photothek.net/Inga Kjer
Von Elke Linda Buchholz. Behutsam streicht Orlando Fontes aus Brasilien über die Oberfläche eines bauchigen Keramikgefäßes. Kritisch betrachtet ein anderer Experte den farbenprächtigen Federschmuck, dessen einzelne Bestandteile er vorsichtig aus der Archivbox im Dahlemer Depot hebt. Was wissen sie beide über diese Gegenstände? Welche uralten, mythischen Erzählungen verbinden sich damit? Was bedeuten die über 100 Jahre alten Objekte den Herkunftsgesellschaften, deren Kultur sie verkörpern? Zusammen mit zahlreichen weiteren Vertretern indigener Gruppen aus dem nördlichen Amazonastiefland reiste Orlando Fontes im Oktober zu einem Arbeitstreffen nach Berlin. Für Projektleiterin Andrea Scholz vom Ethnologischen Museum war der zweiwöchige Workshop samt Symposium ein wissenschaftliches Abenteuer mit offenem Ausgang. Ihr von der Volkswagenstiftung und der Bundeskulturstiftung gefördertes Pioniervorhaben "Geteiltes Wissen" nimmt bis 2020 rund 3000 Objekte in den Blick. Es geht um Wissensproduktion unmittelbar am Gegenstand. Vor allem aber geht es um neue Formen der Zusammenarbeit und des Austauschs auf Augenhöhe.

Die europäischen Museumswissenschaftler sehen sich in der Pflicht, ihre Deutungshoheit aufzugeben und sich den Fragestellungen der Anderen zu öffnen. Im Vorfeld der Humboldt-Forums-Eröffnung hat die postkoloniale Debatte um die Provenienz, also die womöglich unrechtmäßige Herkunft der musealen Stücke, an Brisanz gewonnen. Doch die einstigen Besitzerwechsel sind ihren angereisten Projektpartnern, wie Andrea Scholz feststellte, gar nicht so wichtig. Die indigenen Gesellschaften haben gegenwärtig in Brasilien, Kolumbien und Venezuela mit ganz anderen, existenziellen Problemen zu kämpfen. Aber Projektbeteiligten wie Diana Guzmán, die das kleine Schulmuseum einer indigenen Oberschule im kolumbianischen Mitú betreut, liegt viel daran, dass ihr Traditionswissen und ihre Sicht der Dinge ernst genommen wird. Und sie wünschen sich Unterstützung beim Aufbau eigener Museen und Bildungsprojekte vor Ort.

Nur wenn die Perspektiven wechseln, wächst das Wissen. Für einen westlichen Betrachter sind Körbe, Töpfe, Netze, Hängematten und Maniokreiben vielleicht nur nützliche, kunsthandwerkliche Dinge. In ihrer Herkunftsregion gelten sie als Partner des Menschen. Sie können sogar Lebewesen sein: aufgeladen mit eigener Handlungsmacht. Ihnen zu begegnen, kann gefährlich sein. In ihnen leben uralte Schöpfungsmythen, die von den ersten Menschen erzählen. Und sie verkörpern, hier und jetzt, das Territorium, aus dem sie stammen: das Land, von dem sich die Indigenen heute verdrängt sehen.

Genau dort, etwa am oberen Rio Negro, reiste vor gut hundert Jahren ein emsiger deutscher Ethnologie an. Was Theodor Koch-Grünberg auf zwei mehrjährigen Expeditionen im Tausch gegen Glasperlen, Macheten oder Messer einsammelte, bildet jetzt den Grundstock des auf fünf Jahre ausgelegten Forschungsprojekts. Anhand seiner Tagebücher und Expeditionsakten lässt sich die Sammlungsgenese ungewöhnlich gut nachvollziehen. Sammeln, Klassifizieren, Ordnen und Bewahren: Das war schon immer die Stärke westlicher Forschung. Aber mittlerweile gilt Wissen nicht mehr als statisch.

Gleich im ersten Projektstadium hat Andrea Scholz eine Online-Datenbank, die seither kontinuierlich mit neuen Fakten, Geschichten und Erkenntnissen gefüttert wird. Hier tragen alle Beteiligten, ob in Berlin oder in abgelegenen Amazonasregionen, ihre Beobachtungen ein. Wenn es an einer stabilen Internetverbindung hapert, werden Papierformulare genutzt. Die multilinguale Plattform, die auch in sieben indigenen Sprachen zugänglich ist, wird im Humboldt-Forum auch den Besuchern als lebendiger, wachsender Wissensfundus offen stehen.

Aber Andrea Scholz fragte sich auch: Was haben die Ursprungskulturen eigentlich davon, wenn sie mit uns in Dialog treten? Sie sind mehr als Informanten, deren Wissen es abzuschöpfen gilt. Den indigenen Gruppen und Bildungsinstitutionen geht es darum, ihre Kulturen lebendig zu erhalten. Sie suchen nach Wegen, die junge Generation mit dem Wissen der Ältesten ausrüsten. Wie das ganz konkret gehen kann, erprobten zwei Workshops in Südamerika. Da sah man junge Männer mit Basecap die traditionellen Körbe aus Pflanzenfasern flechten. Diese wachsen nur dort, in dieser Region. Auch die Keramikgefäße sind genuin mit ihrem jeweiligen Territorium im Amazonasgebiet verbunden. Die Fundstellen des Tons gelten als heilig. Selbst wenn die Töpferinnen daraus nur Teller zum Essen fertigen.

Arbeitstreffen im Ethnologischen Museum
im Oktober 2018.
Foto: SPK/photothek.net/Inga Kjer
Als die Gäste in Dahlem die makellos erhaltenen Gegenstände in den Depotschränken sahen, waren sie tief berührt und begeistert, erzählt die Projektleiterin. Manches nämlich hat sich in den Ursprungsregionen gar nicht mehr erhalten. Anderes erkannten die Projektpartner als vertraut und alltäglich wieder. Ein unscheinbares Baumwolltäschchen mit Steinen ließ die Besucher ehrfürchtig, fast entsetzt verstummen. Dieses Objekt ist so mächtig und heilig, dass eigentlich niemand einen Blick drauf werfen darf. Künftig wird diese Tasche würdig im Depot verwahrt, aber den Blicken entzogen bleiben und mit einem Warnhinweis versehen. Auch dies gehört zum respektvollen Umgang mit den Ursprungsgesellschaften. Ein magischer Moment war es, als einer der indigenen Partner sich bereit erklärte, einen über 100 Jahre alten Federschmuck am eigenen Körper anzulegen. Solche farbenprächtigen Federkronen tragen Schamanen bei bestimmten Ritualtänzen. Ihren komplexen Bedeutungsgehalt verstehen die Museumswissenschaftler jetzt besser, auch wenn nicht jedes Geheimwissen preisgegeben wird. Um besonders heikle Objekte zu begutachten, schützten sich die Gäste mit rituellen Vorbereitungen und bemalten ihre Gesichter mit der speziellen roten Farbe Carayuru. Dass sie außerdem Atemschutzmasken und Ganzkörperanzüge wie im Chemielabor anlegten, hatte allerdings einen anderen Grund. Die empfindlichen Federobjekte und Textilien wurden früher im Museumsdepot dermaßen ausgiebig mit Pestiziden behandelt, dass sie auch aus westlicher Sicht als gesundheitsgefährdend gelten.

Eine gekürzte Fassung des Artikels erschien im Tagesspiegel.

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