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Samstag, 19. Dezember 2015

Leidet Venedig an Demenz? Salvatore Settis´ Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte

Foto: Elke Linda Buchholz
Von Elke Linda Buchholz - Salvatore Settis ist wütend. Der 74jährige Altmeister der italienischen Kunstgeschichte verfolgt die Lage Venedigs seit langem mit wachsender Besorgnis. Jetzt reicht es ihm. Nicht steigende Hochwässer, stinkendes Lagunenwasser, verfallende Gemäuer machen ihm Sorgen. Die eigentliche Bedrohung des kostbaren Stadtkörpers sieht er anderswo: in der rapiden Umwandlung einer bewohnten, lebendigen Stadtkommune in eine museale Kulisse mit Hotelfunktion, die letztlich nicht mehr wert ist als die überall auf der Welt emporschießenden Imitate. Ob "The Venetian" in Las Vegas oder in Macao, vielerorts kann man die Highlights der Lagunenstadt mittlerweile bewundern. Das echte, von normalen Menschen benutzte Venedig dagegen schwindet, ist schon fast nicht mehr existent. Bereits kursieren Pläne, auf einer vorgelagerten Insel ein "Veniceland" als historischen Themenpark für Touristen zu installieren. Der italienische Staat bietet sein historisches Erbe derweil scheibchenweise im Internet feil. Der Immobilienwert der Insel La Certosa etwa wurde 2010 auf gut 28 Millionen beziffert. Aber, so Settis, eine Stadt wie Venedig hat keinen Preis. Sie besteht auch aus Unsichtbarem, ist Erinnerung, Erfahrung, Allgemeinbesitz: Kulturgut eben.
Was würde, fragt Settis, Dantes "Göttliche Komödie" oder Michelangelos "Jüngstes Gericht" dem Staatshaushalt an Dividende einbringen? Mit seiner jetzt auf deutsch erschienenen "Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte" erweitert der Gelehrte einen 2012 gehaltenen Vortrag zu einem fundierten Essay. Das kluge Buch, untermauert mit Zahlen und Fakten, gibt zu denken und betrifft nicht nur den im Zentrum stehende Sonderfall Venedig, sondern unseren Umgang mit historisch gewachsenen Stadtstrukturen und urbanen Räumen allgemein Warum sie so unersetzlich sind und wie die inflationär aufploppenden Nachbauten, die translozierten Museumsdörfer und wieder aufgebauten "Originale" das Erleben der realen Städte verändern, schildert er ebenso wie das geschichtsvergessene Emporwachsen von Hochhäusern, die die historischen Stadtkerne dominieren und degradieren.
Bizarres diagnostiziert der Autor etwa in Mailand. Da dort seit alters her festgeschrieben war, dass kein Bauwerk höher ragen durfte als der madonnenbekrönte Dom (108 Meter), griffen Stadtväter und -planer zu einer List. Eine Kopie eben dieser Madonnenfigur wurde auf die Spitze eines höher geplanten Hochhauses montiert. Als dann der nächst höhere Wolkenkratzer den ersten überragte, schwebte die "Madonnina" kurzerhand dorthin weiter.
Settis macht klar: Auch Städte können ihr Gedächtnis verlieren und einer Amnesie verfallen, wie Menschen. Ein Venedig in Demenz? Schauerliche Vorstellung.

Salvatore Settis
Wenn Venedig stirbt 
Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte
Wagenbach Verlag, Berlin 2015
160 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 978 3 8031 3657 2

Erstdruck: literaturblatt für baden-Württemberg, Heft 1/2016

Mehr lesen:
Elke Linda Buchholz über das literarische Venedig
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