Foto: Elke Linda Buchholz |
Was würde, fragt Settis, Dantes "Göttliche Komödie" oder Michelangelos "Jüngstes Gericht" dem Staatshaushalt an Dividende einbringen? Mit seiner jetzt auf deutsch erschienenen "Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte" erweitert der Gelehrte einen 2012 gehaltenen Vortrag zu einem fundierten Essay. Das kluge Buch, untermauert mit Zahlen und Fakten, gibt zu denken und betrifft nicht nur den im Zentrum stehende Sonderfall Venedig, sondern unseren Umgang mit historisch gewachsenen Stadtstrukturen und urbanen Räumen allgemein Warum sie so unersetzlich sind und wie die inflationär aufploppenden Nachbauten, die translozierten Museumsdörfer und wieder aufgebauten "Originale" das Erleben der realen Städte verändern, schildert er ebenso wie das geschichtsvergessene Emporwachsen von Hochhäusern, die die historischen Stadtkerne dominieren und degradieren.
Bizarres diagnostiziert der Autor etwa in Mailand. Da dort seit alters her festgeschrieben war, dass kein Bauwerk höher ragen durfte als der madonnenbekrönte Dom (108 Meter), griffen Stadtväter und -planer zu einer List. Eine Kopie eben dieser Madonnenfigur wurde auf die Spitze eines höher geplanten Hochhauses montiert. Als dann der nächst höhere Wolkenkratzer den ersten überragte, schwebte die "Madonnina" kurzerhand dorthin weiter.
Settis macht klar: Auch Städte können ihr Gedächtnis verlieren und einer Amnesie verfallen, wie Menschen. Ein Venedig in Demenz? Schauerliche Vorstellung.
Salvatore Settis
Wenn Venedig stirbt
Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte
Wagenbach Verlag, Berlin 2015
160 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 978 3 8031 3657 2
Erstdruck: literaturblatt für baden-Württemberg, Heft 1/2016
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