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Mittwoch, 8. Mai 2013

Im Theater (47): "Jeder stirbt für sich allein" beim Theatertreffen

Also war es doch ganz gut, die Theatertreffen-Eröffnung verpasst und sich Michael Thalheimers Medea-Inszenierung auf 3sat angeschaut zu haben. Ohrenzeugen der Aufführung klagen darüber, der Text sei nicht gut zu verstehen gewesen, einen "Transportschaden" vermutete ein Kritikerkollege: Die Freie Volksbühne ist zwar groß genug für fast alle Inszenierungen, die die Theatertreffen-Jury einlädt, aber sie ist nicht immer die erste Wahl, vor allem für kleinere, leisere und intimere Aufführungen. Vorm Fernseher war jedenfalls jedes der messerscharf gesetzten Worte zu verstehen und ich konnte mir ganz gut vorstellen, wie die Inszenierung im Idealfall live wirkt, vor allem mit der Erinnerung an die "Orestie" mit Constanze Becker im Hinterkopf, die Michael Thalheimer vor ein paar Jahren am Deutschen Theater inszeniert hat (hier können Sie die Kritik nachlesen).
Textverständnisprobleme gibt es bei Herbert Fritschs Murmel Murmel-Revue an der Volksbühne keine. So sehr hat mich die Premiere seinerzeit indes nicht vom Stuhl gerissen, dass ich die Einladung der Theatertreffen-Jury zwingend fand. Auch bei der Luc Perecevals Adaption von Hans Falladas Roman Kleiner Mann - was nun? vom Hamburger Thalia Theater stellt sich nicht das Gefühl ein, nun ganz großes Theater zu sehen. Doch in guter Erinnerung bleibt dieser Abend allemal. Geschichten erzählen braucht Zeit und die viereinhalb Stunden mit zwei Pausen werden einem nicht allzu lang, da das gesamte Ensemble und die ganze Inszenierung sich in den Dienst der Geschichte stellen. Die Schauspieler zitieren aus dem Roman und spielen auf fast leerer Bühne vor einer Art Riesenstadtplan der Bühnenbildnerin Annette Kurz, collagiert aus über tausend Alltagsgegenständen, wie von Bomben aus den Häusern auf die Straßen geschleudert. Thomas Niehaus und Oda Thormeyer spielen das alte Ehepaar Quangel, das im heimlich Verteilen von Postkarten mit Anti-Hitler-Parolen noch einmal zusammen findet, leise und unaufdringlich, ähnlich zurückgenommen wie André Szymanski den unglücklichen Kommissar Escherich, der ihnen auf die Spur kommt und sich das Leben nimmt, nachdem er von SS-Leuten gezwungen worden ist, den eingefangenen Quangel zu misshandeln. Alexander Simon und Daniel Lommatsch setzen als Drückeberger und  Gestapo-Spitzel komödiantische Ausrufezeichen. Moralisch degeneriert sind sie alle, das brutal-verlogene Nazisystem zwingt sie dazu, auch die Quangels sind keine Heiligen, aber sie verteidigen wenigstens ihre Menschenwürde und erleben das als spätes Glück. Sie hören auf Mitläufer zu sein - wann der Zeitpunkt dafür gekommen ist, diese existentielle Frage stellt sich nicht nur in Diktaturen.

Zum Weiterlesen: Der Theatertreffen-Blogger Clemens Melzer war unglücklich mit der Aufführung und watschte sie als Biedere Widerstandsromantik ab. So kanns einem gehen, muss aber nicht: Die gespannte Stille im letzten Drittel der gestrigen Aufführung spricht doch sehr dafür, dass die Botschaft beim Publikum ankommt.

Nächste Vorstellung am 12. Juni im Hamburger Thalia Theater

Mehr zum Programm des diesjährigen Theatertreffens von Michael Bienert lesen Sie hier.

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