Was ist das nur wieder für ein abgeschabter Bühnenbunker? Die fensterlose Kiste von Katja Haß, einzig möbliert mit ein paar Sitzstangen vor den Wänden, ist so wohnlich wie ein zu groß geratenes Wartehäuschen an einer Bushaltstelle. Kein hilfreiches Gehäuse für eine Familientragödie mit vier Toten. Dieser Eindruck bleibt, bis zum Schlussapplaus nach zwei pausenlosen Stunden.
Der amerikanische Dramatiker Eugene O'Neill hatte sich 1929 sehr genau überlegt, welches Dekor passend wäre, um die griechische Atridensage ins moderne Amerika zu verpflanzen. Die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs schien ihm die einzige Möglichkeit, den Charakteren genügend „Maske von Zeit und Raum” zu geben, um dahinter das „Drama verborgener Lebensmächte” sich entfalten zu lassen. Dass sich eine heutige Inszenierung von „Trauer muss Elektra tragen” für ein schlichteres Dekor entscheidet, ist begreiflich, der nahezu vollständige Verzicht auf ein glaubwürdiges Familienmilieu jedoch erweist sich als riskante Operation. Wenn man einem Körper die Haut abzieht und nur noch Knochen und Sehnen übrig lässt, sieht er deshalb noch lange nicht besser aus.
Die Griechen nahmen sich tagelang Zeit für ihre Tragödien, der Dramatiker O'Neill übersetzte die Atridensage in drei Stücke mit insgesamt 200 Druckseiten. Sein Erzählstrom schrumpft in der Spielfassung des Regisseurs Stephan Kimmig und der Dramaturgin Sonja Anders zu einem hurtigen Bachlauf. In kurzen Szenen sollen die Schauspieler auf direktem Weg zur Sache kommen. Niemand im Hause Mannon verschwendet noch Zeit damit, den bürgerlichen Anstand zu wahren oder den Zusammenhalt der Familie zu retten.
Nun gibt es selbst in zerrütteten Familien immer Momente, die den unausweichlichen Zerfall verzögern, komplizierter und damit spannender machen. Hier verfolgt jeder bloß noch gradlinig und rücksichtslos seine egoistischen Interessen: Die lebenslustige Mutter Christine (Friederike Kammer) möchte nach zwanzig Jahren Ehe ihren verhassten Gatten aus dem Weg räumen, während die Tochter Lavinia (im Reifrock: Maren Eggert) nach vier Jahren Krieg ihren Papa wiederhaben will. Warum sich beide Frauen in den Kapitän Adam Brant (Bernd Moss) verlieben, bleibt ein Rätsel, denn es sieht doch jeder, dass der Mann nur seine Rache an der Familie Mannon im Kopf hat. Helmut Mooshammer als herzkranker Familienchef wiederum ist nicht der widerwärtige Diktator, den man so eiskalt aus dem Weg räumen müsste. Ehe sich jedoch ein Mitgefühl mit ihm entwickelt, kippt ihm die Ehefrau schon den Todestrunk in den Mund.
In der Familie Mannon geht der gnadenlose Bürgerkrieg weiter, der draußen im Land gerade beendet wurde. Völlig desillusioniert kehrt Lavinias Bruder Orin (Alexander Khuon) im Rollstuhl nach Hause zurück. Das Morden hat ihn so klarsichtig gemacht, dass er Mutter und Schwester eigentlich zum Teufel jagen müsste, statt sich von ihnen umgarnen zu lassen.
Den Liebhaber der Mutter beseitigt er nur, weil sein eigenes Inzestverlangen übermächtig ist. Nach Mutters anschließendem Selbstmord richtet sich Orins Begehren auf die Schwester, und als diese sich verweigert, bringt auch er sich um. Vielmehr: er wird wie die anderen Toten vom Regisseur leise aus dem Spiel genommen. Die ganze Aufführung hat viel von einem Brettspiel, bei dem die Figuren strengen psychologischen Regeln folgen müssen. Die freudianische Logik der Tragödie liegt glasklar vor Augen. Doch wenn die Figuren keine Zeit haben, zu zaudern und zu zagen, wenn sie nicht mal den Hauch einer Chance haben, die Katastrophe hinauszuzögern, dann verbreitet das keinen Schrecken. Das Spiel wirkt nur gut konstruiert. Mitleid kommt immerhin mit den Randfiguren auf, die als Nachbarskinder Hazel und Peter (Natalia Belitski und Sebastian Grünewald) unschuldig in den Familienkrieg hineingezogen werden und seelisch Schaden nehmen.
Durchaus möglich, dass die Aufführung an Überzeugungskraft gewinnt, wenn alle Akteure die Angst verlieren, das straffe Tempo nicht halten zu können. Die schnellen Umschwünge zwischen Hassattacken, Verlorenheit und blindem Liebeshunger beherrscht das ganze Ensemble prima. Aber als Tragödienzuschauer will man den Figuren mit dem Gefühl folgen können, gern auch einige Schrecksekunden länger.
Erschienen in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 20. 10. 2011
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