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Elektronische Kommunikation gehörte schon
1927 zum Alltag im Ullsteinhaus. |
Von Michael Bienert - Die Zeitungsstadt Berlin wird immer unsichtbarer. Zeitungsausrufer gibt es schon lange nicht mehr, die Kioske werden weniger, die Zeitungsleser in U-Bahnen und Bussen sind beinahe verschwunden. Kaum zu glauben, dass immer noch etwa eine halbe Millionen Tageszeitung täglich in Berlin verkauft werden. Die Auflagen sinken stetig, rasche Informationen suchen und finden die meisten Leser im Internet. Die Epoche des Papiers und der Zeitungen scheint reif fürs Museum. Seit Jahren will eine Initiative ein
Pressemuseum im Ullsteinhaus etablieren, kommt aber damit nicht wirklich vom Fleck.
Nun steht ein rundes Jubiläum ins Haus: 1617, vor vierhundert Jahren erschien die Frischmann-Zeitung, die erste gedruckte Zeitung in Berlin. Doch Feierlaune ist nirgends zu spüren. Das Jubiläum löst bange Fragen aus: Wie lange wird es gedruckte Zeitungen überhaupt noch geben wird und was bedeutet die digitale Revolution für den Journalismus? Der Axel-Springer-Verlag hat Traditionsblätter wie die
Berliner Morgenpost und das
Hamburger Abendblatt bereits abgestoßen, weil er in ihnen nur noch lästigen Ballast auf dem Weg zum digitalen Medienkonzern sah. Der Medienwissenschaftler Leonard Novy ist überzeugt, dass es in absehbarer Zeit zur Einstellungen weiterer Zeitungstitel in Berlin kommen wird, weil die Gewohnheiten der Medienkonsumenten sich ändern und die ökonomische Basis der Zeitungen schrumpft.
Gestern abend im Ullsteinhaus saß Novy auf einem Podium mit
Morgenpost-Chefredakteur Carsten Erdmann und
Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner, Brigitte Fehrle moderierte die Diskussion um den Überlebenskampf der Qualitätszeitungen. Die
Morgenpost versucht mit der größten Lokalredaktion in Berlin die Leser zu halten, der
Tagesspiegel erweitert sein Angebotsspektrum für anspruchsvolle und zahlungskräftige Zielgruppen wie Ärzte und Lobbyisten. Experimentieren, um zu überleben, lautet die gemeinsame Devise.
Dass Qualitätsjournalismus niemals alleine durch den Verkauf toller Artikel an die Leser finanzierbar war, sondern durchs Anzeigengeschäft und den Verkauf weniger anspruchsvoller Produkte mitfinanziert werden musste, kann man aus Peter de Mendelssohns Buch
Zeitungsstadt Berlin lernen. Zum 400. Berliner Zeitungsjubiläum wurde das Buch, dessen Autor bereits 1982 starb, neu aufgelegt. De Mendelssohn arbeitete vor 1933 als Journalist in Berlin, nach dem Zweiten Weltkrieg war er als britischer Presseoffizier an der Gründung des
Tagesspiegels und der
Welt beteiligt. Seine Erzählung vom Aufstieg und Niedergang der Zeitungsstadt Berlin in der NS-Zeit bezieht ihre Anschaulichkeit aus dieser Zeitzeugenschaft und der Vertrautheit mit der journalistischen Praxis. Für die Neuausgabe haben die Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister, Leif Kramp und Stephan Weichert ein 50-seitiges Update unter der Überschrift
Von der Zeitungsstadt zur Digitalwirtschaft verfasst, das die jüngsten Entwicklungen resümiert, und siehe da: Im Zeitraffer wird sichtbar, wie quirlig und kreativ die Zeitungsstadt Berlin allen Unkenrufen zum Trotz geblieben ist. Springer hat durch seine Digitalisierungsstrategie den Profit enorm gesteigert, die
taz hat sich mit Hilfe eines Genossenschaftsmodells stabilisiert, der
Tagesspiegel mit den
Mehr Berlin-Seiten und dem
Checkpoint-Newsletter erfolgreich neue Formate im Print- und Onlinebereich etabliert. Die
FAZ ist mit der Wiederbelebung des Berlin-Feuilletons auf den
Berliner Seiten zwar gescheitert, aber sie hat damit Berliner Zeitungsgeschichte geschrieben. Den Namen
Zeitungsstadt verdient Berlin vielleicht bald nicht mehr. Als
Medienstadt ist die Hauptstadt so bunt, experimentierfreudig und vielstimmig wie in den besten Zeiten.
Peter de Mendelssohn u. a.
Zeitungsstadt Berlin
Menschen und Mächte in der deutschen Presse
Ullstein, Berlin 2017
ISBN-13 9783550081576, 816 Seiten, 42 Euro