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Mittwoch, 3. Juni 2015

Endlich gelesen: Nellja Veremejs "Berlin liegt im Osten"

Blick durch die Brunnenstraße zum Alex,
vom Tagungsort der literarischen Runde zum
Handlungszentrum des Romans
Das literarische Sextett, das gestern in der Berliner Brunnenstraße tagte, war sich einig: Dies ist ein richtig guter Berlin-Roman! Drei emeritierte Lingustikprofessor/inn/en, ein Kulturjournalist, eine Germanistik-Doktorandin und ein Jurist schwärmten sich gegenseitig vor, wie lebensnah, lebensklug und warmherzig Nellja Veremej ihre Geschichte einer aus der zerfallenden Sowjetunion nach Berlin ausgewanderten Altenpflegerin erzählt. Wie das Buch bis zum Schluß spannend bleibt, obwohl es eigentlich keine Entwicklung schildert, weil man immer neue Seiten an den Haupt- und Nebenfiguren entdeckt. So unaufdringlich ist es komponiert, dass man erst vom Ende her das kunstvolle Gewebe der Motive durchschaut - und staunt über das Geschick und die Sprachmächtigkeit einer Autorin, die mit etwa Fünfzig ihr Romandebut vorlegt und seit höchstens zehn Jahren in deutscher Sprache schreibt. "Mit der Liebe stand es nicht gut in unserer Familie. Zwar gab es sie bei uns im Überfluss, nur erwidert wurde sie nicht. Die Liebesstrahlen stießen in alle Himmelsrichtungen in die Leere, sie waren wie die Speichen eines endgültig kaputten und enthäuteten Regenschirms." Veremejs poetische Sprachbilder sind Blitze, die einen Sachverhalt schlagartig erhellen und auf den Punkt bringen. Ihre zweite Hauptfigur, der ehemalige DDR-Journalist und Berlinkenner Ulf, hat die NS-Zeit und die sowjetische Besatzung als Junge miterlebt: Veremej erzählt davon so anschaulich, als wäre sie selbst dabei gewesen, und man fragt sich, woher sie das hat. Der Roman spielt hauptsächlich in den Straßen zwischen Alexanderplatz, Volksbühne und Rosenthaler Platz, so wie Döblins Alexanderplatz-Roman von 1929, und gelegentlich streut die Autorin mit leichter Hand Reminiszenzen daran ein. Ohne Lamoryanz erzählt sie - hochaktuell - von den Schwierigkeiten einer Migrantenfamilie, am Ort ihrer Sehnsucht - Berlin - anzukommen und sich heimisch zu fühlen. Die Familie der Erzählerin Lena zerfällt, ihre Liebesaffäre mit einem selbstbewussten deutschen Arzt zerbricht, noch ehe sie richtig begonnen hat. Liebesroman, Familienroman, Migrantenroman, Ost-West-Roman, Wenderoman: Etwas von allem steckt in diesem Buch, das dabei weder überladen noch leichtgewichtig wirkt, weder  überhitzt noch unterkühlt - und schon gar nicht mittelmäßig. Wir sind extrem gespannt, was von dieser Autorin noch kommt!

Nellja Veremej
Berlin liegt im Osten
Roman
Verlag Jung und Jung
318 Seiten, gebunden, 22 Euro

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