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Sonntag, 2. Juni 2013

Anish Kapoor im Berliner Martin-Gropius-Bau


Von Elke Linda Buchholz - Im Lichthof des Martin-Gropius-Baus ist eine riesenrote Sonne aufgegangen. Als Hommage an den Konstruktivisten El Lissitzky und seine abstrakte Grafikserie „Sieg über die Sonne“ hat der Bildhauer Anish Kapoor die geometrische Scheibe hoch oben auf ein Stahlgerüst geschraubt. Schwarze Balken stechen von allen vier Seiten diagonal in den Raum. Ganz im Sinne des maschinenbegeisterten Konstruktivismus sind sie nicht nur abstrakte Formelemente, sondern funktionieren zugleich als elektrische Förderbänder. Leise vor sich hin surrend befördern sie gewaltige, rote Wachsblöcke in die Höhe und lassen sie dann herabstürzen. Brutal zerplatzen die geometrischen Volumen mit dumpfem Knall am Boden zu einer amorphen Masse und türmen sich wie Schlachtabfälle zu stetig anwachsenden Haufen. Ein Work in Progress, das in den kommenden Monaten noch an Form gewinnt.
Der international gefeierte Bildhauer liebt die monumentalen Formate und überwältigt das Publikum schon allein durch die schiere Präsenz der Materialien. Seine neueste Installation hat er eigens für Berlin ersonnen, als Herzstück seiner ersten umfassenden Retrospektive in Deutschland mit 70 Werken aus den letzten 25 Jahren. Die Lichthof-Installation „Symphony for a Beloved Sun“ sucht bewusst den Dialog mit der Geschichte des Ortes, und zwar nicht nur mit El Lissitzky, der in den Zwanziger Jahren in Berlin lebte. Direkt neben dem Ausstellungshaus hält die „Topographie des Terrors“ die Wunden der deutschen Geschichte offen. Und auch Joseph Beuys ist in Kapoors Installation präsent: Der hatte im Lichthof 1982 einen gewaltigen Berg aus rohem Ton aufgehäuft – im Rahmen der legendären „Zeitgeist“-Ausstellung. Deren britischer Kurator Norman Rosenthal hat auch die jetzige Kapoor-Schau inszeniert. Als er vor vier Jahren in der Royal Academy London Anish Kapoors Werke zeigte, strömten 300.000 Besucher.

In einem Raum ballert die Installation „Shooting into the Corner“ alle zwanzig Minuten eine Riesenladung roter Wachspampe auf frischgeweißelte Wände.
Die Besucher sind gehalten, Schallschutzkopfhörer aufzusetzen. Das martialische Action-Painting hinterlässt ein Schlachtfeld aus roter Farbmaterie. In Wien hat Kapoor diese Arbeit 2009 erstmals vorgestellt. Die Farbe Rot ist seine Obsession, kein helles, optimistisches Knallrot, sondern ein dunkler, fleischiger Ton, der organische Assoziationen wachruft und eine düstere, aggressive Note enthält. Bei Kapoor ist die Farbe kein Kolorit, keine Oberflächenangelegenheit, sondern pure Materie, schwer, massig, dicht. Die ersten Skulpturen des 1954 in Mumbai geborenen Bildhauers waren Formen, die er aus Pigmentstaub auf dem Boden ausstreute. Seine Farbfaszination wurzelt in Indien.

Seit 1973 lebt Kapoor in London, wo er heute einen Stab von 20 Mitarbeitern beschäftigt. Die Turbinenhalle der Tate Modern hat er bespielt, England auf der Biennale in Venedig vertreten. Seine aus 110 Tonnen Stahl gefertigte Spiegelwolke „Cloud Gate“ in Chicago von 2004 wurde zum Wahrzeichen der Stadt. Kleine Ableger davon sind die hochglanzpolierten Spiegelskulpturen in der Ausstellung, die die Welt verzerren und den Besuchern viel Vergnügen bereiten. In den Pariser Grand Palais wälzte Kapoor seinen gestrandeten „Leviathan“, ein aufblasbares Monstrum aus braunvioletter PVC-Folie. Der abstrakte Wiedergänger des mythischen Meeresungeheuer macht sich nun in drei Räumen des Martin-Gropius-Baus breit, hat aber offenbar an Spannkraft eingebüsst. Ein Mythos, dem die Luft ausgeht? Oder eine Metapher auf den gegenwärtigen Zustand politischer Systeme? Der britische Philosoph Thomas Hobbes hatte den Leviathan 1651 zum Sinnbild seiner Staatstheorie gemacht.

Viele seiner neuen Arbeiten stechen einem mit intensivem Chemiegeruch in die Nase. Die Monumentalskulpturen sind praktisch ohne steuerndes Zutun des Künstlers aus riesigen Styroporblöcken und Kunstharz entstanden. Aggressive Substanzen haben sich in die Volumen hineingefressen, sie ausgehöhlt, in archaische Tropfsteinhöhlen verwandelt oder wie porige Fleischwunden aufgerissen. Kapoors schaurig-schönes Material-Theater ahmt organische Prozesse nach.

Zurückhaltender und trotzdem stärker wirken ältere, minimalistische Arbeiten. Charmant wölbt sich die weiße Ausstellungswand bei dem Klassiker „When I am pregnant“, als sei sie buchstäblich schwanger. Und „Descent into Limbo“ lädt zum imaginären Abstieg in die Unterwelt wie zuerst auf der Documenta 1992. Was zunächst wie eine simple samtschwarze Kreisfläche auf dem Boden aussieht, entpuppt sich als ein unergründliches, dunkles Loch. Ein leichtes Schwindelgefühl stellt sich ein. Leider darf man nicht nah herantreten, eine Absperrung hält die Besucher auf Distanz. Damit nur niemand in die Unterwelt purzelt.

Öffnungszeiten: Mi – Mo 10-19 Uhr, Di geschlossen
Weitere Informationen zur Ausstellung

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 31. Mai 2013

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