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Freitag, 2. November 2012

Im Theater (40): Wo die Paare Trauer tragen. Dea Lohers "Am Schwarzen See" im Deutschen Theater


Kann mal jemand die Hintergrundmusik abstellen? Das traut sich natürlich niemand in die Premiere hineinzurufen, aber der Gedanke liegt in der Luft. Denn was sich vorn auf der Bühne an persönlicher Tragik abspielt, schwimmt in einer melancholischen Klang- und Sangsoße, die das Unbekömmliche ungenießbar macht. Was ist bloß in den Regisseur Andreas Kriegenburg gefahren, dass er die zarte Musikalität des neuen Stücks von Dea Loher derart verkleistert?
Die Erwartungen an die Uraufführung von „Am Schwarzen See“, ein Auftragswerk des Deutschen Theaters waren hoch, immerhin hatten Loher und Kriegenburg 2008 für „Das letzte Feuer“ den „Faust“-Theaterpreis abgeräumt und waren 2010 mit „Diebe“ zum Theatertreffen eingeladen. „Am Schwarzen See“ ist die dreizehnte Uraufführung eines Loher-Stücks durch Kriegenburg innerhalb von 17 Jahren. Nach den figurenreichen und streckenweise komischen Stücken der jüngsten Zeit überraschen Autorin und Lieblingsregisseur nun mit einem bleischweren Kammerspiel: Zwei Ehepaare verbringen einen Abend und einen Tag miteinander. Wie in solchen Dramen unvermeidlich, werden die ungelösten Konflikte und ungestillten Sehnsüchte in Dauerbeziehungen allmählich freigelegt. Doch bei Loher fliegen nicht die Fetzen wie im Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ oder in Yasmina Rezas Erfolgsstück „Der Gott des Gemetzels“. Lohers Paare quält ein gemeinsames Trauma: Ihre Kinder Fritz und Nina haben als Jugendliche zusammen Selbstmord begangen.
Vier Jahre ist das her. Nun machen der Bankangestellte Johnny (Jörg Pose) und seine herzkranke Frau Else (Katharina Marie Schubert) erstmals wieder Station am Schauplatz der Katastrophe: In der alten Familienbrauerei am Schwarzen See lebt immer noch das überschuldete Besitzerehepaar Cleo und Eddie (Natali Seelig und Bernd Moss). Begegnungsort ist ein ungemütlicher, leer geräumter Riesensaal mit fleckigen Wänden ohne Aussicht ins Freie (von Harald Thor). Wie es um die Bewohner steht, ist klar, ehe das erste Wort gesprochen ist: Eddie versucht ein unangenehmes Körpergefühl zu bekämpfen, sein Kratzen und Umsichschlagen steigert sich bis zu einem unkontrollierbaren Anfall, der erst durch Cleos Berührung abebbt. Solche stummen Szenen, in denen die Figuren rein physisch mit ihrem Schmerz, ihrer Trauer, ihrer Beschädigung kämpfen und sich ineinander verklammern, folgen noch mehrere, und sie gehören zu den stärksten des Abends.
Wie in früheren Loher-Inszenierungen von Kriegenburg gleitet langsam die Drehbühne unter ihnen weg, das verlangt von den Schauspielern wie den Figuren ständige Aktivität, um den ausweglosen Status Quo aufrecht zu erhalten: Sonst fahren sie buchstäblich gehen die Wand. Der ganze Raum und die Figuren scheinen verhext. Anfangs ist dieser magische Realismus sehr schön anzusehen, doch spätestens nach einer Stunde ist klar, dass dieses Auf-der-Stelle-Treten nimmer enden wird. Und dann noch folgenden Enthüllungen sind weder originell noch überraschend: Dass die zupackende Cleo sich längst von ihrem Mann scheiden lassen wollte, dass Johnny fremd geht, dass die fragile Else selbstmordgefährdet ist. Alles an diesen Ehen ist so schrecklich gewöhnlich, dass man die beiden Jugendlichen verstehen kann, die so nicht dahinleben wollten und ihren romantischen Liebestod inszeniert haben, ehe sie erwachsen wurden.
„In Wirklichkeit ist es doch so, dass wir sie beneiden um diesen Tod“, konstatiert die vernünftige Cleo gegen Ende. Daraufhin schlägt Eddie „sie einmal ins Gesicht mit großer Wucht“, so die Szenenanweisung im Text, und Else schneidet sich die Pulsadern auf. Beide Gewaltakte nimmt man in der Inszenierung gar nicht als dramatische Zuspitzung wahr. Musik aus dem Off stellt den melancholische Leidenston sofort wieder her, die Inszenierung verdämmert, wo auch ein abrupter Schnitt denkbar gewesen wäre. Ein Teil des Publikums schien erst beim freundlichen Schlußapplaus wieder richtig aufzuwachen.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 3. November 2012

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